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Persönliche und unternehmerische Integrität – Reflexionen über einen grob missverstandenen Erbauer und Zerstörer von Welten

Stuart D.G. Robinson & Alan Ettlin

15. August 2020

Warum ist es so, dass Integrität, wie das gesamte Thema der Ethik, im Geschäftsleben eine so grosse Herausforderung darstellt, dass Führungskräfte entweder bewusst oder unbewusst versuchen, sie zu vermeiden?

Ein Teil der Antwort mag darin liegen, dass ihnen nicht die Ausbildung und die Werkzeuge gegeben wurden, um sich damit auseinanderzusetzen; ein anderer Teil der Antwort mag in der Tendenz zur Digitalisierung, zur Evidenzbasiertheit und zum Atomismus im Allgemeinen liegen, die wenig Raum für nicht quantifizierbare Phänomene wie Integrität lassen; ein weiterer Teil mag in der schieren und oft unterschätzten Komplexität dessen liegen, was Integrität in der heutigen Welt bedeutet.

Gleichzeitig scheinen Journalisten und Einzelpersonen, die uns schaden wollen, die geringsten potenziellen Verletzungen unserer Integrität und Ethik aufzuspüren und darüber in einer Weise zu berichten, die bekanntlich dem Ruf einzelner Führungskräfte und ihrer Organisationen sehr schweren Schaden zufügen kann, manchmal bis hin zu fatalen Folgen.

In diesem und anderen Artikeln hoffen wir, eine Reihe von Erkenntnissen zu vermitteln, die es u.a. dem höheren Management ermöglichen, die zunehmend komplexen Herausforderungen, die das Phänomen der Integrität mit sich bringt, anzugehen und zu lösen.

Ausgehend von einer Fallstudie werden wir verschiedene Beispiele analysieren und dann im zweiten Abschnitt erörtern, wie sie möglicherweise gelöst werden können.

Die Verwaltungsratspräsidentin (VRP) konnte ihr Temperament nicht zügeln, als ihr Bruder, derzeit CEO des Unternehmens, zu ihr kam, um ihr mitzuteilen, dass er seinen eigenen Sohn mit einer Stelle in der Finanzabteilung betrauen werde:

“Kommt absolut nicht in Frage. Nie, nie, niemals. Wenn Du das tust, John, dann werde ich meinen Teil verkaufen und wahrscheinlich den Verkauf des ganzen Unternehmens erzwingen!”

John schreckte zurück und wirkte schockiert, gar eingeschüchtert. Mit etwas Widerstand von seiner Schwester hatte er gerechnet, aber nicht mit einem solchen Wutausbruch. Wie er es in solchen Situationen mit seiner Schwester oft tat, ging er bewusst in die Defensive und versuchte zu beschwichtigen:

“Ich habe jedes Recht, Jimmy einzustellen. Wie Du weisst, braucht er einen Job. Er hat sein Studium abgeschlossen … wird dieses Mal wahrscheinlich sehr gute Noten bekommen … aber kein Arbeitgeber wird ihn aufgrund seiner Krankheit einstellen. Jane und ich haben es mit ihm besprochen … es war übrigens seine eigene Idee … und es wäre lediglich eine untergeordnete Stelle in der Finanzabteilung. Es handelt sich nicht um eine leitende Position, also würde es auch unsere schriftliche Vereinbarung nicht verletzen. Übrigens hat mein Nachfolger bereits zugestimmt, dass Jimmy die Stelle bekommt. Komm schon, Susan. Was ist denn los? Beruhige Dich einfach und lass uns vernünftig darüber reden.”

Susan wiederholte ihre ursprüngliche Stellungnahme mit noch grösseren Emotionen als zuvor und fügte hinzu:

“Hör zu, John, ich habe Mutter nachgegeben. Nach zehn Jahren als Geschäftsleiterin habe ich zugelassen, dass Du diese Funktion übernimmst, dass Du Deine Ideen zur Vision und Strategie der Firma, ganz zu schweigen von Deinen Eingriffen in die Unternehmenskultur, umsetzen kannst. Jetzt verlieren wir jeden Tag mehr und mehr Geld. Das wäre nie passiert, wenn Vater nicht so früh gestorben wäre … Unsere Mutter war sowieso nie eine Geschäftsfrau. Der Jahresumsatz ist auf 350 Millionen gesunken und wir haben in den letzten drei Jahren keinen Gewinn gemacht … mit anderen Worten, seit Du das Sagen hast. Wir stehen auch kurz davor, ein sehr kostspieliges Gerichtsverfahren zu verlieren: Du hast uns da reingezogen und jetzt kommst Du auch noch damit … dem allerletzten Strohhalm. Nie, nie, niemals.”

Sie ging in ihr Büro, nahm ihre Autoschlüssel und fuhr los, sichtlich vor Wut kochend.

Später am Abend erhielt Susan einen Anruf von John. Sobald ihr klar wurde, dass er immer noch sein Recht verteidigte, Jimmy einen Job in der Firma zu geben, beendete sie das Gespräch abrupt.

Stephen, der Ehemann von Susan, fragte sie, worum es bei dem Telefongespräch ging. Während des Abendessens konnte er Susan allmählich dazu bringen, ihre Meinung zur Einstellung von Jimmy zu ändern. Weder Stephen noch Susan mochten Jimmy als Person: Beide hatten ernsthafte Zweifel an seiner Fähigkeit, über lange Zeiträume hinweg konzentriert zu arbeiten. Sie bezweifelten zudem, dass er in seinen Universitätsprüfungen deutlich bessere Noten als im Jahr zuvor erzielen könnte. Ein zentrales Thema für beide war die Gefahr, dass Jimmy, obwohl er ein hochintelligenter junger Mann war, den Ruf der Familie innerhalb der Organisation ruinieren könnte, wenn er dort arbeiten würde. Susan hatte schon immer Bedenken gehabt, was den Geschäftssinn ihres Bruders anbelangte. In seinen Führungsstil und ‘wo um alles in der Welt er das Unternehmen in den letzten drei Jahren hingeführt hatte’ hatte sie ohnehin kein Vertrauen mehr. Zudem war sie besorgt, dass er – nach seinem Ausscheiden als CEO in zwei Monaten – finanzielle und andere sensible Informationen erhalten würde, wenn Jimmy die Stelle in der Finanzabteilung bekäme. Vor allem befürchtete sie, dass John versuchen könnte, sich in ihre eigene strategische Führung des Unternehmens und des neuen CEO einzumischen. Letzterer war kein analytischer, administrativer Typ wie John, sondern jemand, von dem berichtet wurde, dass er über einen ausgezeichneten Leistungsausweis als unternehmerische Führungspersönlichkeit verfüge. Genau diese Eigenschaften waren es, die das Unternehmen aus der Sicht von Susan brauchte – nämlich die Eigenschaften einer Person, die viel mehr wie sie selbst war. Aus diesem Grund hatte sie diese Person auch ausgewählt. Susan war der Meinung, dass die Strategie ihres Bruders, sich auf die Solartechnologie zu konzentrieren und darauf abzuzielen, das traditionelle Kerngeschäft mit Hydraulikpumpen radikal zu verkleinern, so schnell wie möglich rückgängig gemacht werden musste.

Trotz der Schwere ihrer Bedenken kam Susan aufgrund der Argumente ihres Mannes langsam zur Einsicht, dass sie ihrem Neffen gegenüber fair und rücksichtsvoll sein sollte: es handle sich schliesslich um ein Familienunternehmen; John hätte ihren eigenen Sohn, Sammy, mit einem nicht unbeträchtlichen Beratungsmandat für das Unternehmen beauftragt; nicht zuletzt müsste auch der besondere psychologische Zustand ihres Neffen berücksichtigt werden. Sie stimmte mit Stephen überein, dass Integrität an erster Stelle stehen sollte und dass sie mit sofortiger Wirkung aufhören müsse, gegen die Ernennung ihr Veto einzulegen. Susan rief John noch am selben Abend an, um ihn über ihren Sinneswandel im Interesse der Familie zu informieren.

Als John seiner Frau, Jane, und auch Jimmy, vom Sinneswandel seiner Schwester erzählte, lächelten sie und drückten ihre Dankbarkeit aus.

Weder Jimmy noch Jane hatten den Mut, zuzugeben, dass sie sich an diesem Nachmittag mit Stephen in der Stadt auf einen Kaffee getroffen hatten: sie hatten Stephen erklärt, wie dringend Jimmy einen Job brauche, um die finanzielle Belastung, die seine Studienjahre verursacht hätten, zu verringern und vor allem, um mehrere grosse Schulden bei verschiedenen Freunden und Kollegen zu begleichen – Schulden, die er offenbar vor seinem Vater verheimlicht hatte.

In dieser Fallstudie, die inhaltlich nur geringfügig von einer realen Situation abweicht, sehen wir, wie eine Führungsperson vor dem Dilemma steht, entweder gewisse ethische Grenzen zu überschreiten, um die Integrität des Unternehmens zu schützen und folglich ihre eigene Integrität zu gefährden, oder aber ihre persönliche und familiäre Integrität in den Vordergrund zu stellen und damit die Integrität des Unternehmens aufs Spiel zu setzen.

Analog zum Phänomen der ‘Neutralität’, das wir in anderen Artikeln behandelt haben, besteht eine der Herausforderungen für Menschen, die ein Vorbild für Integrität sein wollen und müssen, darin, dass die Betrachten¬den diejenigen sind, die das entscheidende Integritätsurteil fällen, und nicht die Betrachteten. ‘Integrität’ ist also eine Wahrnehmung aus der Sicht des Betrachtenden oder, genauer formuliert, ein moralisches Werturteil auf der Grundlage der Motive, die Betrachtende hinter den Handlungen der Betrachteten interpretieren – bzw. zu interpretieren wählen – und inwieweit diese interpretierten Motive mit den eigenen Auffassungen bezüglich ethischem und unethischem Handeln übereinstimmen. In der Fallstudie lesen wir

‘John schreckte zurück … Wie er es in solchen Situationen mit seiner Schwester oft tat, ging er absichtlich in die Defensive …’.

Wenn wir Susan wären und uns bewusst wäre, dass John sich oft so verhält, könnten wir möglicherweise interpretieren, dass hinter seinem Verhalten ein Motiv emotionaler Manipulation steht. Eine solche Interpretation könnte uns (als Betrachtende dieser Darstellung der Ereignisse) dazu bringen, die Integrität von John in Frage zu stellen, da eine manipulative Absicht von vielen von uns als unethisch angesehen wird(1). Kann es sein, dass wir selbst, wenn wir – in einer Situation wie derjenigen von Susan – mit Verhalten konfrontiert werden, das wir als emotionale Manipulation empfinden, dazu neigen, unseren eigenen Gefühlen treu zu bleiben und in Wut ausbrechen? Wenn wir das täten, würden wir selbst nicht in die Integritätsfalle tappen, d.h. wir würden unsere persönliche Integrität wahren, indem wir dem unterwürfigen Verhalten von John nicht nachgeben und unser eigenes Verhalten nicht an seins anpassen würden. Oder wären wir vielleicht ebenso manipulativ, sogar uns selbst gegenüber, indem wir unsere natürlichen Emotionen unterdrücken und versuchen würden, als Vorbild für ruhiges, gesammeltes, professionelles Verhalten zu wirken? In diesem Fall würden auch wir selbst in die Integritätsfalle tappen, da wir – wie John – von Dritten als schuldig eines bewusst manipulativen Verhaltens angesehen werden könnten. In diesem Szenario könnten sowohl wir selbst, als auch John, die Motive des jeweils anderen als manipulativ und damit als nicht integer(2) ansehen, was wiederum zu einer noch komplexeren Dynamik führen würde, als die Fallstudie derzeit vermuten lässt, die aber im beruflichen und privaten Alltag keinesfalls ungewöhnlich ist.

Im Verlauf der Fallstudie lesen wir folgende Aussage von Susan:

‘Hör zu, John, ich habe Mutter nachgegeben. Nach zehn Jahren als Geschäftsleiterin habe ich zugelassen, dass Du diese Funktion übernimmst, dass Du Deine Ideen zur Vision und Strategie der Firma, ganz zu schweigen von Deinen Eingriffen in die Unternehmenskultur, umsetzen kannst.’

Wir können daraus interpretieren, dass sich Susan vor einigen Jahren sehr wahrscheinlich bewusst wie geschildert verhalten hat, um in den Augen ihrer Mutter als integer – d.h. als loyal gegenüber ihrer Familie und ihrem Bruder – zu wirken, dass sie sich aber in Wahrheit bewusst war, dass sie damit gegen ihre eigene innere Überzeugung handelte. Da Letzteres eine Verletzung ihrer persönlichen Integrität darstellen würde, könnten wir ihre Motive dahingehend interpretieren, dass sie bewusst den Erfolg des Unternehmens, die Existenzgrundlage der Mitarbeitenden, das Wohlergehen der Kunden und Lieferanten gefährdet hat, indem sie es ihrem Bruder erlaubte, das Unternehmen zu übernehmen und den Kurs zu ändern: Darüber hinaus hätte sie wissentlich die Unternehmensintegrität verletzt, indem sie als VRP die Umsetzung einer Strategie zugelassen hat, bei der die erforderliche Übereinstimmung zwischen ihren eigenen strategischen Überzeugungen und denen ihres Bruders gefehlt hat.

Wie es im Geschäftsalltag oft der Fall ist, könnten die Gründe für die negativen Trends des Unternehmens so dargestellt werden, dass sie ausserhalb des Einflussbereichs von Susan oder John liegen. Trotzdem könnten wir als Betrachtende von Susan in ihrer Funktion als VRP zu dem Urteil kommen, dass

  1. ihre persönlichen Motive nicht im Einklang mit ihrer funktionalen Verantwortung zur Wahrung der Unternehmensintegrität gestanden sind
    und/oder
  2. es ihr an persönlicher Integrität gemangelt hat, indem sie von ihrer inneren Überzeugung abgewichen ist und auf Kosten des Unternehmens vetternwirtschaftlich gehandelt hat
    oder, dass sie bestenfalls
  3. unter einem oder beiden dieser Gesichtspunkte mit fehlgeleiteter Integrität gehandelt hat.

Mit weiterem Nachdenken und ein wenig kreativer Spekulation könnten wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die neue Strategie von John den Marktentwicklungen weitgehend entsprach, d.h. dass er erkannt hatte, dass

  • die ursprüngliche Strategie und die Produktlinien seines Vaters keine Zukunft hatten
    und
  • eine fundamentale Veränderung für den Erfolg des Unternehmens entscheidend wäre, auch wenn es einige Zeit dauern könnte, bis der Veränderungsprozess abgeschlossen und der Nutzen realisiert werden könnte.

In einem solchen Fall könnten wir uns veranlasst sehen, die Integrität der Motive von Susan in Frage zu stellen, die von John beabsichtigte Neuorientierung des Unternehmens, d.h. seine Umgestaltung zentraler Modi Operandi, rückgängig zu machen – einschliesslich möglicher Änderungen an den vier Säulen der Ethik, der Kultur, der Vision und der Strategie, sowie deren Zusammenspiel – dies

  • ‘nur’ wegen ihrer eigenen Loyalität gegenüber allem, was ihr Vater aufgebaut hat
    bzw.
  • in einem Versuch, ihre persönliche Integrität in den Augen Betrachtender, die ihre inneren Überzeugungen gekannt haben, wiederherzustellen.

Solche Spekulationen könnten uns wieder einmal in mehrfacher Hinsicht zur Interpretation einer fehlgeleiteten Integrität seitens Susan führen.

Ein weiterer Aspekt der Integrität, der sich an dieser Stelle manifestiert, ist derjenige der Unberührtheit oder ‘Reinheit’. Ob in Zusammenhang mit einem Menschen, einer Organisation, einem anderen Lebewesen, einem materiellen Gegenstand, einem Gedanken oder dem, was als ‘geistiges Eigentum’ bezeichnet wird, gibt es in bestimmten ethischen Kontexten ein Verständnis von Integrität, das verlangt, dass dessen Sein rein sei: Das Sein dürfe nicht berührt oder befleckt werden – zumindest nicht ohne ausdrückliche Zustimmung der betreffenden Partei und unter der Annahme, dass sie über das entsprechende Urteilsvermögen verfügt und/oder Zugang zu einer Instanz mit dem notwendigen Urteilsvermögen hat. Sobald ihr ursprünglicher, makelloser Zustand, ihre Reinheit, als unrechtmässig berührt, d.h. nicht respektiert, betrachtet wird, kann ihre Integrität als verletzt und folglich als – möglicherweise unwiederbringlich – verloren angesehen werden. In der obigen Fallstudie könnte die Integrität des Unternehmens demzufolge als verletzt betrachtet werden, wenn man die Änderungen so interpretiert, dass sie ohne die bereitwillige Zustimmung zumindest der Inhaber vorgenommen wurden. Obwohl wir nicht über genügend Informationen verfügen, um zu erkennen, wer die tatsächlichen Inhaber des Unternehmens sind, würden gewisse Annahmen es zulassen, die Änderungen, die von John, von Susan – oder von beiden – durchgeführt (oder beabsichtigt) wurden, als Verletzung der Integrität des Unternehmens zu beurteilen. Zu den Annahmen, die für eine solche Beurteilung bestätigt werden müssten, gehören natürlich nicht nur Faktoren wie die Verteilung der Aktien in der Eigentümerschaft, sondern auch der kulturelle und ethische Charakter der Beziehung zwischen den Eigentümern, dem Verwaltungsrat und der Geschäftsleitung sowie der Charakter der institutionalisierten Rollenverständnisse und der Verhaltenskodizes innerhalb des Unternehmens. Ist die Kultur beispielsweise hierarchisch geprägt, oder haben alle Mitarbeitenden den gleichen Stakeholder-Status wie die Eigentümer und müssen daher ihre willentliche Zustimmung zu grundlegenden Veränderungen geben? Stimmt es mit der Unternehmenskultur überein, dass der Sohn eines der Eigentümer als Berater beigezogen wird und Einfluss auf die Veränderungen nehmen kann? Für eine detailliertere Abhandlung der letztgenannten Themen werden geneigte Leser auf frühere Artikel der Autoren verwiesen.

Der nächste Abschnitt der Fallstudie erlaubt es uns wiederum, Werturteile über die Integrität von Susan und ihrem Ehemann zu bilden. Was waren die Motive hinter den Gefühlsausbrüchen von Susan? Warum lehnte sie die Idee von John so vehement ab, Jimmy zu beschäftigen? Versuchte Susan damit, sowohl ihre eigene persönliche Integrität als auch die Unternehmensintegrität wiederherzustellen? Letztere Interpretation wäre vertretbar, wenn wir ihre Motive dahingehend interpretieren würden, dass sie bewusst und entschlossen handelte, ihren inneren Überzeugungen treu blieb, die Vetternwirtschaft beseitigte, die Unternehmensintegrität und den Ruf des Unternehmens wiederherstellte und die Interessen der Mitarbeitenden und Lieferanten über diejenigen ihrer Familie, ihres Bruders und ihres Neffen stellte.

Nach ihren ursprünglichen emotionalen Ausbrüchen scheint sie sich jedoch von Stephen davon überzeugen zu lassen, dass es ethisch korrekt wäre,

  1. nicht nur die schwierigen Umstände, in denen sich Jimmy befindet, über ihre persönlichen Überzeugungen zu stellen,
    sondern auch
  2. angesichts der Tatsache, dass John ihren eigenen Sohn Sammy mandatiert hatte für die Firma zu arbeiten, fair zu handeln.

In den Augen von Stephen wäre die Integrität nicht durch das verletzt, was von anderen als Motiv der Vetternwirtschaft angesehen werden könnte, sondern dadurch, dass seine Frau nicht mit genügend Sympathie, Einfühlungsvermögen und Fairness handeln würde. Wir können u.a. interpretieren, dass Integrität für ihn nichts mit Unternehmenserfolg zu tun hat, sondern mit Mitgefühl. Möglicherweise ist Stephen weniger als seine Frau sensibilisiert für die Unterscheidung zwischen persönlicher und unternehmerischer Integrität und für die Herausforderungen, diese in Einklang zu bringen. Dies wiederum würde das Integritätsdilemma von Susan noch komplexer machen, da sie das Gefühl haben könnte, dass ihre primäre Loyalität eher bei ihrem Mann als bei der Organisation liegen muss. Wenn sie sich dem Integritätsverständnis ihres Mannes anschliesst, bleibt uns – aus der Sicht des Unternehmens betrachtet – kaum eine Alternative als die Interpretation, dass sie wieder in die Falle der fehlgeleiteten Integrität geraten ist. Darüber hinaus kann ihr Verhaltenswechsel von der offenen emotionalen Ablehnung zu einem Ausdruck echten Mitgefühlt Jimmy und ihrem Bruder gegenüber als inkonsistent im Verlauf der Zeit betrachtet werden – und damit als einen erneuten Makel ihrer Integrität.

Diese Reflektionen zeigen auf, wie anspruchsvoll es für viele Führungspersonen sein muss, ihren Mitmenschen im Berufs- und Privatleben permanent zeigen zu müssen, dass sie das Richtige tun. Wie kann man als Führungsperson sich selbst in einem sozialen Umfeld, in dem die eigene Integrität von anderen Menschen festgelegt wird, ständig treu bleiben? Wie in anderen Artikeln erläutert, kann eine ethische Dissonanz uns ernsthaft krank machen – und im Extremfall gar zum Selbstmord führen – was an sich schon veranschaulicht, dass ein ethischer Kompromiss sowohl ein inhärent widersprüchlicher Begriff als auch, je nach Grad der Dissonanz, ein unhaltbarer psychischer Zustand ist.

Die Fallstudie endet mit einer interessanten Wendung und erhöhter Komplexität in Bezug auf die Aufgabe von Susan, sowohl ihre persönliche Integrität als auch die Unternehmensintegrität zu schützen. Die Formulierung des Textes lässt uns als Lesende/Beobachtende gewisse Optionen und viel Spielraum für Interpretationen auf der Grundlage unserer persönlichen Erfahrung und Ethik.

Wenn wir die Art und Weise, wie Stephen sich gegenüber seiner eigenen Frau verhalten hat, betrachten, könnten wir uns veranlasst sehen, seine persönliche Integrität in Frage zu stellen. Er scheint nicht ehrlich zu ihr gewesen zu sein. War dies möglicherweise aus Sympathie gegenüber Jimmy? Hatte er Mitgefühl für Jimmy, weil dieser Angst vor seinem Vater hatte? War sein Vater ein ‘Kontrollfreak’, der Jimmy keinen persönlichen Freiraum liess, und war Susan ein ebenso grosser Kontrollfreak wie ihr Bruder und vielleicht auch ihr Vater?

Ferner können wir uns dazu verleiten lassen, die Integrität von Jane in ihrem Verhalten ihrem Mann John gegenüber in Frage zu stellen. Ist sie aus ähnlichen Gründen ebenso unehrlich?

Wir können auch Interpretationen über die Motive von Jimmy bilden und die Integrität in seinem Verhalten und seine Motive gegenüber seinem Vater in Frage stellen. Was für ein Mensch muss er sein, um seine Schulden vor seinem Vater zu verbergen, ihn aber dennoch zu einer Anstellung in der Firma zu drängen – wohlwissend, dass er nicht in der Lage sein wird, in angemessener Form zu arbeiten, und dass er damit das Ansehen seines Vaters untergräbt?

Vielleicht können wir uns zu Spekulationen über die Integrität in den Motiven von John gegenüber seinem Sohn verleiten lassen, da er ihm schliesslich erlaubt, eine Funktion zu übernehmen, die seine Krankheit und Schwächen aufdecken könnte.

Um unsere bisherigen Überlegungen zur Integrität abzuschliessen, haben wir als Lesende/Beobachtende einige potenzielle Entscheidungen zu treffen. Sollten wir mangelnde oder fehlgeleitete Integrität entschuldigen, sollten wir sie verurteilen oder sie billigen? Sollten wir die Integrität in all ihren Facetten proaktiv angehen oder sollten wir sie umgehen? Es stellt sich auch die Frage, wie wir uns selbst treu bleiben können, wenn die Integrität unseres Verhaltens und unserer Motive von anderen Menschen entschieden wird. Wie sollen wir darüber hinaus Veränderungen vornehmen, die wir im Interesse der Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit einer Organisation für notwendig erachten, und gleichzeitig sowohl die Reinheit ihrer Unternehmensintegrität als auch die der Ausrichtung jeglicher Veränderung ihrer Ethik, Kultur, Vision und Strategie wahren? Und schliesslich: Wie können wir verhindern, dass andere das ‘Integritätsargument’ als Waffe gegen uns verwenden, wie es in der Welt der Wirtschaft, der Politik und des gesellschaftlichen Lebens so oft geschieht, um den Ruf von Einzelpersonen und Organisationen zu demontieren?

Eine Facette von Integrität und Ethik, die in der Fallstudie nicht zum Ausdruck kommt, die aber für die Behandlung einiger der oben aufgeworfenen zentralen Fragen ebenso wichtig ist, ist die der Heuchelei. Vielen von uns scheint es leicht zu fallen, das Verhalten anderer zu verurteilen, zu entschuldigen oder zu billigen: Unsere ethische Kompetenz ermöglicht es uns, sehr schnell Werturteile darüber zu fällen, was wir als die Motive interpretieren, die hinter dem Verhalten anderer Menschen stehen. Die Werturteile, die wir fällen, die mit den stärksten Emotionen verbunden sind, gehen in der Regel auf ethische Werte zurück, die wir auf der Ebene der Tiefenethik (‘deep-ethics’) verinnerlicht haben und die zu einem Teil unseres Wesenskerns und unserer Selbstdefinition geworden sind.

Wenn wir zum Beispiel folgenden Absatz lesen

‘Weder Jimmy noch Jane hatten den Mut, zuzugeben, dass sie sich an diesem Nachmittag mit Stephen in der Stadt auf einen Kaffee getroffen hatten: sie hatten Stephen erklärt, wie dringend Jimmy einen Job brauche, um die finanzielle Belastung, die seine Studienjahre verursacht hätten, zu verringern und vor allem, um mehrere grosse Schulden bei verschiedenen Freunden und Kollegen zu begleichen – Schulden, die er offenbar vor seinem Vater verheimlicht hatte.’

könnten einige von uns sehr schnell Gedanken in folgender Richtung entwickeln

Wie können Jimmy und Jane nicht den Mut haben, das Richtige zu tun? …

Das ist geradezu feige und obendrein manipulativ!

Und Jimmy muss sicherlich ein schlechtes Gewissen haben, weil er seine Schulden vor seinem Vater geheim gehalten hat… sicherlich gibt es dafür irgendeinen finsteren Grund.

Gedanken wie diese könnten eng mit einer inneren, selbstdefinierenden Überzeugung verbunden sein, wie

Ich selber würde so etwas niemals tun.

Letzteres könnte natürlich durchaus zutreffen – bis wir eines Tages in eine Situation geraten, in der wir es für klüger halten, ein scheinbar unbedeutendes Geheimnis für uns zu behalten, um jemand anderem erheblichen Schmerz oder Peinlichkeit zu ersparen. Wenn nun unser Geheimnis entdeckt würde und wir aufgefordert würden, dazu Stellung zu nehmen, könnten wir uns selbst gegenüber wie folgt argumentieren:

Es handelte sich natürlich um eine besondere Situation, die sich völlig von normalen Situationen unterschied(3).

Falls nötig, könnten wir versuchen, die inhärente Heuchelei zu umgehen oder sie gegenüber der Person, die uns herausfordert, so glaubwürdig wie möglich zu rechtfertigen, um unsere ethische Kompetenz und damit unsere Integrität unter Beweis zu stellen. Wir könnten auch versuchen, uns zu entschuldigen oder zu erklären, warum unser Verhalten nicht mit dem übereinstimmt, was wir zuvor getan oder gesagt haben, da ein wahrgenommener Mangel an Konsistenz in unserem Verhalten natürlich als Ausdruck divergierender und/oder möglicherweise unaufrichtiger Motive interpretiert werden kann, was folglich unsere Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit – und in vielen, wenn nicht in allen ethischen Kontexten, unsere Integrität – beeinträchtigen kann.

Negative Werturteile wie ‘inkonsistentes Verhalten’, ‘fehlgeleitete Integrität’, ‘mangelnde Übereinstimmung zwischen den vier Säulen der Ethik, der Kultur, der Vision und der Strategie’, ‘verletzte Reinheit’, ‘Heuchelei’ sowie auch ‘Zynismus’ zeigen sehr deutlich auf, warum es aufgrund unseres Bedürfnisses nach Verlässlichkeit, Berechenbarkeit, Vertrauenswürdigkeit und Übereinstimmung mit unseren eigenen Erwartungen und Werten für Personen in besonders verantwortlichen Positionen essentiell ist, als integer wahrgenommen zu werden. Eigenschaften wie Verlässlichkeit sind für Menschen in praktisch allen Kontexten des Lebens essenziell, einschliesslich Personen in der Unternehmensführung, von denen erwartet wird, dass sie sich zu jeder Zeit als ethische Vorbilder benehmen – nicht zuletzt in Zeiten weit verbreiteter Unsicherheit und Not. Verlässlichkeit, Berechenbarkeit und Vertrauenswürdigkeit sind Eigenschaften, die ebenso wie Integrität wenig Toleranz zulassen. Sie sind praktisch unvereinbar mit ‘Grautönen’: Eine Führungsperson ist entweder zuverlässig oder nicht, berechenbar oder nicht, vertrauenswürdig oder nicht, integer oder nicht.

Neben den Erwartungen, die wir an Führungskräfte stellen, gibt es eine weitere, für unsere Gedanken zentrale Realität. Wahrscheinlich werden nur wenige Menschen dazu erzogen, diese in ihre Gedanken und Emotionen zu integrieren, es ist jedoch genau diese Realität, die energieaufwändige ethische Dissonanzen und Spannungen innerhalb und zwischen den Menschen verursacht, nämlich dass die Welt innerhalb und ausserhalb von uns selbst nicht mono-ethisch ist – und dies seit hunderten, wenn nicht tausenden von Jahren. Da wir jedoch konditioniert sind, mono-ethisch zu denken und zu handeln, d.h. mit hoher ethischer Kompetenz, kategorisieren wir bestimmte Arten von Gedanken, Verhaltensweisen und Motiven entweder als ethisch oder als unethisch. Dies hat zur Folge, dass, wenn die Motive, die unserem Verhalten zugrunde liegen,

  • als ethisch divergierend, d.h. inkongruent, z.B. heuchlerisch wirken,
    und/oder
  • nicht mit der eigenen Ethik und/oder den Erwartungen der Betrachtenden übereinstimmen, unsere Integrität mit hoher Wahrscheinlichkeit in Frage gestellt wird.

Auf die Gründe für die Tatsache, dass wir mono-ethisch konditioniert sind, einzugehen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Sie werden an anderer Stelle ausführlich diskutiert. Auf einer allgemeinen Ebene können wir jedoch erkennen, dass

  • die Mono-Ethik einen Sinn und einen Zweck für diejenigen hat, die konditioniert sind, Verlässlichkeit, Vorhersehbarkeit, Vertrauenswürdigkeit und Gewissheit zu benötigen,
    und dass
  • die bis anhin verwendete Definition des Begriffs ‘Integrität’ ein Produkt dieser Konditionierung ist.

Indem wir allmählich die Wahrhaftigkeit der Multi-Ethikalität, die in uns und um uns herum existiert, erkennen, gewinnen wir die Möglichkeit, uns langsam aus einigen der mentalen und emotionalen Grenzen zu befreien, die die Konditionierung der Mono-Ethikalität notwendigerweise schafft. Wir werden uns dann bewusst, dass ein Begriff wie ‘Heuchelei’ – wie wir ihn bisher gekannt haben – allmählich seine Bedeutung verliert, wenn wir aufhören, ethisch unterschiedliches Verhalten durch die Linse der Mono-Ethikalität zu beurteilen. Dasselbe gilt für ‘Sarkasmus’, ‘Zynismus’, ‘Doppelmoral’ sowie für ‘Integrität’ und für das, was oben als ‘fehlgeleitete Integrität’ bezeichnet wurde.

Während es kognitiv relativ leicht zu verstehen ist, dass die Herausforderungen, die sich aus dem mono-ethischen Konzept der Integrität ergeben, durch die Anerkennung der Multi-Ethik überwunden oder gar vermieden werden können, kann die Verinnerlichung dieser Erkenntnis eine neue und bedeutsame Herausforderung darstellen. Der Prozess der Verinnerlichung beinhaltet und erfordert eine Entwicklung unserer interethischen Kompe¬tenz. Letztere befähigt uns, an der Schnittstelle zwischen unterschiedlichen ethischen Standpunkten zu agieren oder zu vermitteln, ohne persönliche, mentale oder emotionale Resonanz oder Dissonanz mit einem der betreffenden Standpunkte(4) zu erleben oder zum Ausdruck zu bringen. Mit der Entwicklung unserer interethischen Kompetenz wird sich auch unsere ethische Neutralität entfalten und damit allmählich ein Kernelement unseres bisherigen Selbstverständnisses sowie unser Bedürfnis nach der durch die Mono-Ethik gebotenen Form der Gewissheit auflösen. Eindringliche Beispiele einer Person, die sich selbst in die Lage versetzt hat, ausserhalb der Grenzen der Gewissheit, an der Schnittstelle zwischen ethischen Standpunkten zu agieren, finden sich in den Memoiren von Gisela Perl. Die jüdische Gynäkologin, die von 1944 bis 1945 in Auschwitz gefangen gehalten wurde, beschreibt, wie sie die von Josef Mengele geforderten medizinischen Operationen und Aufgaben durchführte; parallel dazu beendete sie das Leben neugeborener und auch ungeborener Babys und rettete vorerst das Leben ihrer Mütter(5). Es ist denkbar, dass sie sich an der Schnittstelle zwischen widersprüchlichen ethischen Standpunkten befand, wie möglicherweise den folgenden:

  • einen Menschen zu ermorden ist ein vorbestimmtes, absolutes moralisches Unrecht
  • einen Menschen zu ermorden, ist legitimierbar, abhängig von der eigenen Einschätzung der jeweiligen Umstände.

Im praktischen Umgang der Autoren damit, Menschen zu helfen, solch divergierende ethische Standpunkte in verschiedenen Situationen zu erkennen und ihre interethische Kompetenz zu entwickeln, hat sich gezeigt, dass die meisten Menschen an einen Grenzpunkt gelangen, der durch ihre ‘deep-ethics’ definiert ist, d.h. durch diejenigen ethischen Werte, die unveränderlich sind und bleiben müssen. Die Tatsache, dass Gisela Perl später versuchte, Selbstmord zu begehen, könnte ein Hinweis darauf sein, dass auch sie sich mit der Verletzung ihrer eigenen ‘deep-ethics’ nicht abfinden konnte.

Ein aktuelles anschauliches Beispiel ist der italienische Staatsanwalt Nicola Gratteri, der sich derart dafür eingesetzt hat, die als ‘Ndranghetta bekannte kalabrische Mafia-Organisation strafrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen, dass sein Leben seit 1989 von der Polizei und persönlichen Leibwächtern strengstens geschützt werden muss. In einem Telefoninterview mit der Financial Times(6) wird er wie folgt zitiert:

Ich kenne die Stadt, in der ich wohne, nicht. Ich kann keine normalen Beziehungen zu Menschen haben. Ich kann nicht ins Kino gehen. Ich kann nicht spazieren gehen, auch nicht zum Strand, der sechs Kilometer von meinem Haus liegt. Ich reise morgens ab, esse im Büro im selben Raum und gehe nach Hause. (unsere Übersetzung)

Der Autor fährt fort:

Die grosse Hingabe von Gratteri hat ihn in ganz Italien immer bekannter gemacht. Dennoch lebt er jeden Tag in dem Wissen, dass ihn der Tod verfolgt. (unsere Übersetzung)

Ironischerweise haben die ‘Ndranghetta Berichten zufolge in Kalabrien selber auch ‘den Tod verfolgt’, indem sie das Ableben von COVID-19-Opfern antizipierten und Verwandte unter Druck setzen konnten, bestimmte Bestattungsunternehmen zu nutzen. Dies war dadurch möglich, dass sie Krankenhäuser, ja gar das gesamte Gesundheitssystem in der Region infiltriert haben.

In einem Interview mit freepressonline.it(7), einer Lokalzeitung von Catania, porträtiert sich Gratteri als jemanden, der in einer Welt jenseits ethischer Dilemmata agiere. Interessierten Lesern wird empfohlen, den Artikel in seiner Gesamtheit zu lesen.

Inwieweit ein Aktionärsaktivisten-Fonds namens Voce Capital Management sich ebenfalls jenseits ethischer Dilemmata befindet, geht aus den Informationen in einem Bericht der Financial Times(8) über Mark Watson, den Chief Executive des Spezialversicherers Argo Group, nicht eindeutig hervor. In einem Brief schreibt Voce Capital Management über Mark Watson wie folgt:

Sein Geschmack für – unter anderem – Kunst, Architektur, Rennsport, Segeln und Luxusreisen ist gut dokumentiert, und er scheint ein ziemlicher Lebemann zu sein … Aber wir sind zutiefst besorgt, dass die Hobbys von Herrn Watson, seine Lieblingsprojekte und der Personenkult, den er offenbar für sich schaffen will, die Prioritäten von Argo umgestellt und korrumpiert haben. (unsere Übersetzung)

Auf Initiative des Aktivisten wurde das Unternehmen von der Securities and Exchange Commission untersucht und Mark Watson wurde seines Amtes enthoben. Solche Angriffe auf die Integrität von Führungskräften und ihren Arbeitgebern können die Frage nach der Ethik hinter den Motiven der Angreifer aufwerfen. Im Falle eines Aktionärsaktivisten könnte man spekulieren, dass die Motive von Eigennutz und der Steigerung des eigenen Ansehens getrieben sind, d.h. von dem, was man als ‘heuchlerische’ Verunglimpfung der Integrität anderer bezeichnen könnte. Im vorliegenden Fall haben wir keine Informationen über die entsprechende Ethik hinter den Motiven von Mark Watson, Daniel Plants, dem Gründer von Voce, oder ihren jeweiligen Organisationen.

Eine ähnliche Situation ist auch in unserer ursprünglichen Fallstudie zu finden:

Einige Tage später – und zur Überraschung aller – schrieb Sammy einen scharf formulierten Brief an John und Susan, in dem er weitere Mandate vom Unternehmen ablehnte, nachdem er sich ohne vorherige Absprache und aus eigener Initiative mit dem neuen CEO getroffen hatte. In seinem Brief schreibt er:

Nach umfangreichen Recherchen über den beruflichen und persönlichen Hintergrund des neuen CEO hat sich herausgestellt, dass diese ‘sehr erfahrene, unternehmerisch denkende Führungspersönlichkeit’ keinerlei Leistungsausweis vorzuweisen hat; in seinem Lebenslauf hat er bewusst bestimmte, sehr heikle Teile seines Werdegangs ausgelassen. Auch wird er von einigen Personen, die ihn privat kennen, als narzisstischer Hochstapler ohne jegliche Integrität beschrieben. Nun, all diese Punkte kann ich bestätigen. Nach alldem habe ich das Vertrauen in die Art und Weise, wie das Familienunternehmen jetzt geführt wird, völlig verloren.

Über die Ethik hinter dem Angriff von Sammy auf die Integrität seiner Mutter, seines Onkels, des aspirierenden CEO wie auch auf die des Familienunternehmens kann man nur spekulieren.

Es ist jedoch klar, dass der Einsatz der ‘Integritätswaffe’ höchst zerstörerisch und auch ein Indikator für die Ethik sowohl des Angreifers als auch des Angegriffenen sein kann. In einigen Fällen können die ethischen Systeme der beiden Parteien stark dissonant und in anderen Fällen sehr ähnlich sein. Ebenso klar ist, dass ein hohes Mass an Empathie, die mit interethischer Kompetenz einhergeht, erforderlich ist, um auch nur ansatzweise mit einem der wohl mächtigsten Instrumente der Mono-Ethik umzugehen. Geht man davon aus, dass ‘Angreifer’ wie Sammy über keine ausgeprägte Empathie verfügen, da sie sonst das Integritätsargument nicht in destruktiver Weise verwenden würden, können es nur die angegriffenen Parteien selbst sein, die in solchen Fällen möglicherweise den Schaden für ihr öffentliches und privates Ansehen sowie ihre Beziehungen zum Angreifer minimieren können. In Wirklichkeit ist es natürlich ausserordentlich schwierig, wenn nicht gar unmöglich, den Schaden für das öffentliche und private Ansehen einer derart angegriffenen Partei rückgängig zu machen.

Zurückkommend auf die Fragen,

  1. ob wir mangelnde oder ‘fehlgeleitete Integrität’, ‘inkonsistentes Verhalten’, ‘mangelnde Übereinstimmung zwischen den vier Säulen der Ethik, der Kultur, der Vision und der Strategie’, ‘verletzte Reinheit’ und ‘Heuchelei’ entschuldigen, verurteilen oder billigen sollen,
  2. ob wir die Integrität in all ihren Aspekten proaktiv angehen oder sie umgehen sollen,
  3. wie wir uns selbst treu bleiben können, wenn die Integrität unseres Verhaltens und unserer Motive von anderen Menschen entschieden wird,
  4. wie wir Veränderungen vornehmen sollen, die wir im Interesse der Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit einer Organisation für notwendig erachten, und wie wir gleichzeitig sowohl die Reinheit der Unternehmensintegrität als auch der Ausrichtung aller Veränderungen ihrer Ethik, Kultur, Vision und Strategie wahren können,
  5. wie wir andere daran hindern können, das ‘Integritätsargument’ als Waffe zu benutzen, um den Ruf unserer Person und unserer Organisationen zu zerstören?

bieten wir folgende Schlussfolgerungen an: Menschen wie Führungskräfte, die besondere Verantwortung tragen und von denen erwartet wird, dass sie ethische Vorbilder sind, benötigen

  1. ein Mass an ethischer Kompetenz, das es ihnen in mono-ethisch konditionierten Umgebungen erlaubt,
    • als authentische ethische Vorbilder zu denken und zu handeln
    • Interpretationen ihrer Motive als Ausdruck ihrer Integrität zu ermöglichen
    • gegebenenfalls alle Facetten der Integrität proaktiv anzugehen
    • zu vermeiden, dass Dritte Werturteile wie ‘inkonsistent’ oder ‘heuchlerisch’ über sie fällen
    • stattdessen allenfalls bestehende Bedürfnisse wie Zuverlässigkeit, Berechenbarkeit, Vertrauenswürdigkeit und Sicherheit zu erfüllen
    • Veränderungen im Interesse der Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit unter Berücksichtigung aller Facetten der Integrität des Unternehmens wie dessen Reinheit und die Übereinstimmung zwischen ihren zentralen Säulen zu fördern
  2. ein Mass an multi-ethischer Kompetenz, das es ihnen erlaubt, in unterschiedlichen mono-ethisch konditionierten Umgebungen
    • die Deutung ihrer Motive als authentischen Ausdruck der Integrität in jeder der mono-ethisch konditionierten Umgebungen zu ermöglichen
    • gegebenenfalls alle Facetten der Integrität proaktiv anzugehen
    • Werturteile über ihr Denken und Verhalten zu vermeiden, die nicht dem jeweiligen Verständnis eines ethischen Vorbilds entsprechen
    • Veränderungen im Interesse der Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit unter Berücksichtigung aller Facetten des entsprechenden Verständnisses von Unternehmensintegrität zu fördern
  3. ein Mass an interethischer Kompetenz und damit einhergehender ethischer Neutralität, das es ihnen erlaubt,
    • sich in allen ethischen Umgebungen in erster Linie empathisch als ein echter Ausdruck der Treue zu sich selbst zu verhalten
    • an Schnittstellen zwischen unterschiedlichen mono-ethisch bedingten Standpunkten zu agieren und/oder zu vermitteln, ohne persönliche, mentale oder emotionale Resonanz oder Dissonanz mit einem der betreffenden Standpunkte zu erleben oder zum Ausdruck zu bringen
    • die Entwicklung interethischer Kompetenz in ihren Organisationen zu fördern
    • Veränderungen im Interesse der Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit unter Berücksichtigung aller Facetten und Auswirkungen der Multi-Ethik zu fördern.

Schlusswort

Als abschliessende Bemerkung, mit einer bewussten Anspielung auf die Worte von J. Robert Oppenheimer, hinterfragen wir die Legitimität des Aufbaus mono-ethischer Welten, des Einsatzes von Integrität als Waffe in einer faktisch multi-ethischen Welt und des Versäumnisses in der Managementausbildung, Menschen mit dem notwendigen Mass an interethischer Kompetenz auszustatten, um Positionen mit besonderer Verantwortung wahrnehmen zu können.

15. August 2020

Fussnoten

  1. Andere Beobachtende, z.B. von machiavellistischer Veranlagung, finden möglicherweise keinen ethischen Fehler in einem Verhalten, das anscheinend darauf abzielt, einen persönlichen Vorteil zu erreichen. (zurück)
  2. Es sei denn, dass sowohl wir als auch John ein Verständnis von Integrität teilen, das uns beiden erlaubt, uns manipulativ zu verhalten, d.h. ohne dass unsere Integrität von unserem Gegenüber als verletzt empfunden wird, während wir unser eigenes Verhalten als manipulativ empfinden. (zurück)
  3. In gewissen Situationen kann es vorkommen, dass wir unsere eigenen ethischen Werte als widersprüchlich empfinden, z.B. ob wir unbeirrbar die Wahrheit sagen oder jemandem um jeden Preis Schmerzen ersparen wollen. Manchmal kann sich ein solcher potenzieller ethischer Konflikt relativ schnell auflösen, indem sich eine verinnerlichte Hierarchie der Werte manifestiert; in anderen Fällen können diverse unvereinbare Wertesysteme im Spiel sein und zu einem echten ethischen Dilemma führen. (zurück)
  4. Da wir diese Frage in anderen Artikeln erörtert haben und betonen möchten, dass nach unserem Verständnis weder interethische noch interkulturelle Kompetenz mit irgendeiner Form des Relativismus gleichzusetzen ist, verweisen wir interessierte Leser auf diese Artikel, anstatt sie an dieser Stelle zu wiederholen oder weiter auszuführen. (zurück)
  5. Vgl. Gisela Perl, I was a doctor in Auschwitz, International Universities Press, New York, 1948. (zurück)
  6. Vgl. Miles Johnson (2020), How the Mafia infiltrated Italy’s hospitals and laundered the profits globally, Financial Times, 9. Juli 2020 [online]. Zugänglich unter https://on.ft.com/2ZQFxCL (Zugriff am 10. Juli 2020). (zurück)
  7. Vgl. Orazio Vasta, Chi è Nicola Gratteri, il magistrato a cui Napolitano impedi’ di diventare Ministro della Giustizia, freepressonline.it, 26. Dezember 2019 [online]. Zugänglich unter https://freepressonline.it/2019/12/26/chi-e-nicola-gratteri-il-magistrato-a-cui-napolitano-impedi-di-diventare-ministro-della-giustizia/ (Zugriff am 10. Juli 2020). (zurück)
  8. Vgl. Sujeet Indap, Argo affair is a warning for CEOs enjoying lavish perks, Financial Times, 10. Juli 2020 [online]. Zugänglich unter https://on.ft.com/2W2wZaX (Zugriff am 10. Juli 2020). (zurück)

Literaturverzeichnis

Stuart D.G. Robinson (2017) If You Are Rethinking Your Ethics – In Line With Developments In Digitalisation, Artificial Intelligence, Superintelligence And Singularity

Stuart D.G. Robinson (2017) Ethik macht krank – die medizinischen Folgen ethischer Konflikte am Arbeitsplatz

Stuart D.G. Robinson (2016) Ethical Health Management – Terms And Concepts

Stuart D.G. Robinson (2016) Interethische Kompetenz

Stuart D.G. Robinson (2014) Interethical Competence

Stuart D.G. Robinson (2007) The Value Of Neutrality

Stuart D.G. Robinson (2007) Intercultural Management – The Art Of Resolving And Avoiding Conflicts Between Cultures