Dieser Artikel kann hier (pdf, 487 kB) heruntergeladen werden.

Interethische Kompetenz

Ein Artikel von Stuart D.G. Robinson

Kapitel 5 unter Mitwirkung von Christoph Brünner

Inhalt

1. Einführung

2. Warum interethische Kompetenz in der globalen Geschäftswelt notwendiger denn je ist?
2.1 Ethisch aufgeladene Herausforderungen, Konflikte und Dilemmata nehmen zu.
2.2 Modernismus, der weitverbreitete Tod einer ‚gottgegebenen‘ Ethik und die gleichzeitige Verbreitung einer ‚Ethik aus Menschenhand‘.
2.3 Die Scheinheiligkeits-Falle
2.4 Kulturelle und ethische Konditionierung

3. Was ist mit dem Begriff interethische Kompetenz gemeint?
3.1 Einführung
3.2 Wie lässt sich ein ethischer Standpunkt charakterisieren?
3.3 Was ist der Unterschied zwischen ethischer Kompetenz, multi-ethischer Kompetenz und inter-ethischer Kompetenz?
3.4 Was ist der Unterschied zwischen interethischer Kompetenz und interkultureller Kompetenz?
3.5 Wer entscheidet darüber, welches Verhalten ethisch angemessen ist?

4. Entwickeln und Erfahren von ethischer Neutralität
4.1 Einführung
4.2 In welchem Ausmass kann eine Person im Verhältnis zu ihren eigenen ethischen Standpunkten ethische Neutralität ausüben?
4.3 Der Unterschied zwischen Wahrnehmung und wahrnehmen
4.4 Erfahren von ethischer Neutralität als dritte Person
4.5 Entwickeln von ethischer Empathie
4.6 Gestalten und Erfahren von ethischem Raum

5. Beispiele für ethische Herausforderungen, mit denen Personen in Schlüsselpositionen konfrontiert wurden, und für die Anwendung interethischer Kompetenz in solchen Situationen.

6. Schlussfolgerungen


1. Einführung

Bestärkt durch die wachsende Resonanz, die meine Kollegen und ich unter leitenden Angestellten und anderen Personenkreisen erhalten haben, habe ich mich entschlossen, einige Thesen bezüglich der Thematik der Ethik in einem Grundsatzpapier zusammenzufassen. Dieses Papier ist vor allem dem Begriff der interethischen Kompetenz gewidmet.

These 1: Die interethische Kompetenz – d.h. die Fähigkeit, ethische Differenzen und Konflikte zu erkennen und zu überwinden – wird zukünftig ein wesentlicher Erfolgsfaktor in der internationalen Zusammenarbeit sein; dies aus folgenden Gründen:

  1. Infolge der rasant wachsenden Interaktionen und der multidimensionalen Interdependenzen zwischen Nationen, Fachdisziplinen und Ideologien steigt das Bedürfnis, die daraus entstehenden ethischen Konflikte zu verstehen und diese möglichst reibungslos zu bewältigen.
  2. Immer mehr Gemeinschaften und Organisationen
    • zeigen sich bestrebt, ihre eigenen ethischen Prinzipien und Standards als universell gültig durchzusetzen – oder zumindest diese als universell gültig anerkennen zu lassen
      und/ oder
    • plädieren – u.a. aus eigener demokratischer Überzeugung – für die Notwendigkeit des gegenseitigen Respekts zwischen den unterschiedlichen Kulturen und Weltanschauungen.
  3. Da Grenzen und Abgrenzung inhärente Bestandteile des Phänomens Kultur sind und dazu dienen, jeder kulturellen Gemeinschaft ihre Identität zu verleihen, erweist sich die Konsensbildung zwischen den unterschiedlichen kulturellen Gemeinschaften dieser Welt als häufig sehr anspruchsvoll, insbesondere auf der fundamentalen Ebene der Ethik.
  4. Infolge der rasanten Verbreitung des Phänomens der von Menschen gemachten Ethik verändert sich nicht nur die Anzahl der ethischen Auseinandersetzungen, sondern auch die Natur solcher Auseinandersetzungen.

These 2: Obwohl viele Personen über ein relativ hohes Mass an interethischer Kompetenz bereits verfügen – und darüber verfügen müssen, um im Rahmen ihrer operativen Tätigkeit erfolgreich zu sein – wird diese Kompetenz von ihren Auftraggebern häufig viel zu wenig anerkannt. Im Gegenteil werden viele Personen, die über diese Kompetenz verfügen, missverstanden, ignoriert oder bestraft.

These 3: Die fehlende Anerkennung der interethischen Kompetenz als Schlüsselfähigkeit und deren Stellenwert im internationalen Wirtschaftsumfeld hat zur Folge, dass diese Kompetenz gegenwärtig in den meisten Organisationen ernsthaft unterentwickelt und der nachhaltige Erfolg dieser Organisationen gefährdet ist.

Während ich diese Gedanken zu Papier bringe, erinnere ich mich an gewisse Artikel, die ich vor fast 20 Jahren zum Thema Interkulturelle Kompetenz geschrieben habe.1 Zu Beginn der 90-er Jahre haben verschiedene Seiten angemerkt, dass unsere Gedanken „zehn Jahre zu früh“ kämen. In der Retrospektive war diese Einschätzung zum grossen Teil richtig. Hauptsächlich begründet war dies aus meiner Sicht überwiegend durch ein fehlendes Bewusstsein für das Konzept und die Bedeutung der interkulturellen Kompetenz – und nicht weil es nicht schon zu jener Zeit in einem viel grösseren Ausmass benötigt worden wäre. Zwei Jahrzehnte später weist die internationale Geschäftswelt immer noch unzählige Beispiele ungenügender interkultureller Kompetenz auf. Dies gilt für grosse und kleine Organisationen im selben Mass. Auch wenn unser Engagement für die Notwendigkeit einer stärkeren Ausprägung von interethischen Kompetenz ein ähnliches Schicksal erleiden könnte wie der Einsatz für die interkulturelle Kompetenz, sind wir gleichwohl der Meinung, dass es sich um eine Schlüsselkompetenz handelt, die anerkannt, verstanden und entwickelt werden sollte – vor allem auf der Ebene des oberen Managements. Unserer Meinung nach, sind die Fähigkeiten der interkulturellen und der interethischen Kompetenz sehr eng miteinander verbunden, wie ich unten näher erklären werde.

Zu Beginn des nächsten Abschnitts werde ich die Argumente für meine erste These erläutern. Die Thesen 2 und 3 werden explizit in Kapitel 6 behandelt.

2. Warum werden die ethische und die interethische Kompetenz in der globalen Geschäftswelt notwendiger denn je?

Obwohl die folgende Liste von Antworten auf diese Frage nicht vollständig sein soll, bin ich bemüht, einige der zwingendsten Argumente darzulegen. Diese Argumente werden in Abschnitt 5 dieses Artikels erläutert, in dem Christoph Brünner und ich konkrete Beispiele für alltägliche Herausforderungen von Geschäftsleitungs- und Verwaltungsratsmitgliedern analysieren werden.

Während der Verfassung dieses Artikels im Frühjahr 2011, beobachteten wir, wie im Mittleren Osten Hunderttausende für mehr Demokratie protestierten und in einigen Fällen Regime dazu gezwungen wurden, abzudanken. Viele auswärtige Beobachter interpretieren diese Entwicklungen als eine globale Bewegung zu einem einheitlichen Verständnis von Demokratie. Andere wiederum sehen darin den Beginn von neuen und vielfältigen Gesellschaftsformen, jede basierend auf einem bestimmten Verständnis von ethischem und unethischem Verhalten. Manche sehen die Verwandlung der Welt zu einem globalen Dorf und begrüssen die Erkenntnis, dass die Welt am Ende ihrer soziopolitischen, ideologischen Entwicklung angelangt sei – vgl. Fukuyama, ‘The End of History2. Andere sehen die kulturelle Vielfalt nicht nur auf dem Vormarsch, sondern als eine Grundvoraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung an – vgl. Nancy, ‘Dis-Enclosure’; Saul, ‘Collapse of Globalism’; Watson, ‘A Terrible Beauty’. 3

Diese Unterschiede in der Art, die Welt wahrzunehmen, werden sich notwendiger-weise im verbleibenden Teil des Artikels wiederfinden. Es ist nicht nur die unbestreitbare Präsenz, sondern auch die erhöhte Lautstärke, mit der eine Vielfalt von globalen Ansichten und ethischen Standpunkten geäussert werden – sowie die Konflikte, die zwischen ihnen entstehen können – die ein angemessenes Niveau an interethischer Kompetenz in vielen Lebenssituationen erforderlich machen. Dazu gehören insbesondere auch die Bereiche der Wirtschaft und der Politik. Wie schon mit dem Phänomen Kultur, wird Ethik dann relevant, wenn ethische Differenzen so offensichtlich werden, dass sie nicht mehr ignoriert werden können. Sonst manifestiert sich das Phänomen der Ethik nicht in offensichtlicher Form und ist somit nicht relevant. Dass Ethik in unserer Welt ein so wichtiges Thema geworden ist, resultiert aus der Tatsache, dass wir mit einer Vielfalt an ethischen Standpunkten konfrontiert werden, die sich nicht ignorieren lassen.

[In den folgenden Ausführungen wird der Begriff Manager für Personen verwendet, die leitende Positionen in gewinn- und nicht gewinnorientierten Organisationen innehaben und schliesst sowohl operative Geschäftsleitungs- als auch Aufsichts- und Beratungsfunktionen ein.]

2.1. Increasing exposure to ethically-loaded challenges, conflicts and dilemmas.

Infolge der Zunahme von Transparenz und individueller Rechenschaft – sowohl auf lokaler als auch auf globaler Ebene – müssen Manager heutzutage davon ausgehen, dass einige ihrer Entscheidungen früher oder später einer genauen ethischen Überprüfung durch Dritte oder durch die Öffentlichkeit unterzogen werden. Die Schwierigkeit dabei ist, voraussagen zu können, welche Entscheidungen von wem und aus welcher ethischen Perspektive einer solchen Überprüfung unterzogen werden.

Auf der individuellen und der Mikroebene beobachten unsere heutigen Manager die Schicksale ihrer Berufskollegen und erkennen, dass sie ethisch reflektieren müssen, bevor sie sich entscheiden, persönlich Auslagen einzufordern, Vergünstigungen anzunehmen oder bestimmte persönliche Beziehungen einzugehen – d.h. dann, wenn sie eine moralische oder ethische Blossstellung oder sogar ein juristisches Verfahren verhindern wollen. Persönliche Glaubwürdigkeit wird zunehmend gleichbedeutend mit ethischer Authentizität (siehe unten).

Auf der Makroebene erkennen Manager die wachsende Notwendigkeit, über mögliche Konsequenzen nachzudenken, die ihre Organisationen und ihr Umfeld erleiden werden, wenn sie es versäumen,

  1. Korruption, Vetternwirtschaft oder Diskriminierung vollständig zu beseitigen,
  2. die Ausbeutung von Frauen und Minderjährigen proaktiv zu verhindern und/oder
  3. angemessene Schritte zu unternehmen, um wirtschaftliche, soziale und ökologische Katastrophen zu verhindern.

Es kommt vermehrt nicht nur darauf an, was diese ethisch exponierten Individuen tun; auch das, was sie nicht tun – d.h. das, was sie übersehen bzw. unterschätzen – wird letztendlich zum Gegenstand von Untersuchungen.

Die ethischen Faktoren und Gemeinschaften, die berücksichtigt und in die Entscheidungsprozesse integriert werden müssen, sind so zahlreich und ineinander verknüpft, dass es heutzutage erforderlich ist,

  1. eine gut durchdachte, mono-ethische Überzeugung und/oder
  2. ein stark ausgeprägtes Mass an interethischer Kompetenz

zu besitzen.

Einer der Gründe für diese Entwicklung liegt in der Tatsache, dass leitende Manager in der westlichen Welt im Allgemeinen immer weniger durch ihre hierarchische Position und die Strukturen innerhalb ihrer Unternehmungen geschützt werden. Während die Unternehmensstrukturen schlanker und Hierarchien flacher werden, nimmt die individuelle Verantwortung und Rechenschaft zu. Daraus resultiert, dass die potentielle materielle und moralische Fehlbarkeit von Managern und ihren Entscheidungen sich dramatisch erhöht hat. Dies gilt nicht nur für aktuelle getroffene Entscheidungen, sondern auch für solche aus der Vergangenheit. Viele Manager sind schon gezwungen worden, eine Entscheidung nachträglich zu bedauern, die sie unter ganz anderen Umständen bzgl. Haftung, Rechenschaft und Transparenz getroffen haben.

Ein anderer Grund liegt im gestiegenen Respekt für und in der Emanzipation von kulturellen und ideologischen Minderheiten; eine Entwicklung, die mit der verstärkten Freiheit der Meinungsäusserung und den technischen Möglichkeiten des globalen Meinungsaustausches durch das Internet einher geht. Blogging als Beispiel macht es möglich, dass Leute mit extrem unterschiedlichen ideologischen Standpunkten – unabhängig von Zeitzonen, ihrem geografischen Standort oder von ihrer Mobilität – Vorkommnisse aufdecken und kommentieren können.

Demzufolge verbleibt den Managern nur die Wahl, die mögliche Überprüfung von Entscheidungen entweder bewusst zu ignorieren oder sie möglichst zu antizipieren. Dies betrifft Entscheidungen, die getroffen werden bzw. bereits getroffen worden sind, und die zum Opfer von Diskrepanzen werden könnten zwischen

  1. ihren persönlichen ethischen Vorstellungen und denjenigen der anderen Stakeholdern,
  2. den unterschiedlichen ethischen Standpunkten, die von verschiedenen Stakeholdergruppen vertreten werden,
  3. ethischen Standpunkten (ob fremden oder eigenen), die sich im Laufe der Zeit in ihrem Inhalt und Stellenwert ändern.

Die Strategie des Ignorierens geht häufig mit der starken Überzeugung eines Managers bzgl. eines gewissen monoethischen Standpunkts einher. Der Erfolg der Strategie des Antizipierens hängt wiederum von der Fähigkeit ab, den Zugang zu möglichst vielen ethischen Standpunkten zu finden. Im Falle von Entscheidungen, die noch zu treffen sind, sollten Manager in der Lage sein, ein möglichst umfassendes Spektrum von potentiell relevanten ethischen Ansichten in ihre Entscheidungsfindungsprozesse zu integrieren und/oder mögliche Kritik aus den verschiedenen ethischen Richtungen zumindest in ihrer rhetorischen Planung vorwegzunehmen.

Als Tony Blair, der frühere britische Premierminister, im Januar 2010, aus Anlass der Irak-Untersuchung befragt wurde, sagte er, “Saddam Hussein was a monster and I believe he threatened not just the region, but the world”. Zur Rechtfertigung der militärischen Intervention kommentierte er: “I do genuinely believe the world is a safer place as a result.” In diesem Fall, appellierte Tony Blair mit dem Begriff glauben an eine mono-ethische Überzeugung, um die ethische Grundlage seiner Entscheidungen zu rechtfertigen. Er tat dies auf eine Art und Weise, die die Diskussion potentiell – und möglicherweise beabsichtigt – auf eine Metaebene überführt. So schafft er bei seinen zahlreichen ideologischen und ethischen Kritikern ein ethisches Dilemma; nämlich ob sie das Recht haben, seinen Glauben in Frage zu stellen oder nicht.

In einem noch markant grösseren Ausmass als bei Politikern kann die Rolle des CEO eines global tätigen Unternehmens beinhalten, die Herausforderungen des multi-ethischen Umfeldes zu bewältigen – dies als integraler Bestandteil seiner Rechenschaft für den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens. Die geistige Haltung vieler Manager beruht auf der Annahme, dass die moralische Dimension in ihren Entscheidungsprozessen dem Kriterium der kurzfristigen Profitabilität und der Erzielung von ausreichenden Gewinnen für die Aktionäre untergeordnet ist. Die kulturelle Konditionierung, die solchen Denkweisen zugrunde liegt, hat nicht selten zur Folge, dass leitende Führungskräfte Entscheidungen treffen, die sie später in ethischer und auch in materieller Hinsicht bereuen müssen.

Holistisch betrachtet liegt die ethische Dimension des Entscheidens weder in einer akademischen noch ideologischen oder philosophischen Sphäre und ebenso wenig lediglich darin, Geschäfte ethisch abzuwickeln. Vielmehr schliesst der holistische Ansatz auch die Arbeitsethik ein, d.h. die Ethik, Verantwortung dafür wahrzunehmen, dass finanzieller Profit geschaffen und sichergestellt wird. In diesem holistischen Zusammenhang zum ‚ethischen Gesamtpaket‘ wird der westliche Manager persönlich zur Rechenschaft gezogen und ist dem ständigen Risiko ausgesetzt, denunziert und entlassen zu werden.

Konfrontiert mit diesem ethischen Gesamtpaket und einer möglicherweise sehr kritischen und multi-ethischen Aussenwelt, werden Manager dazu aufgefordert, ihre eigene ethische Haltung und die ihrer jeweiligen Organisation in Frage zu stellen. Der Druck kann jedoch ebenso aus dem Innern der Organisation selbst kommen, da die multiethisch zusammengesetzte Aussenwelt oft in den vielfältigen ethischen Standpunkten von Angestellten wiederzufinden ist. Während und nach Entscheidungsfindungsprozessen verschaffen sich heutzutage divergierende interne ethische Standpunkte vermehrt Gehör.

2.2 Modernismus, der weitverbreitete Tod einer ‘gottgegebenen‘ Ethik und die gleichzeitige Verbreitung einer ‘Ethik aus Menschenhand‘

Ein ethischer Kodex ist eine Auswahl von Werten, die es Menschen vorschreiben, wie sie sich zu verhalten haben. In gottesfürchtigen Gemeinschaften ist es allgemein ein Gott oder mehrere Götter, der/die letztlich vertreten, diktieren und darüber urteilen, wie Menschen sich verhalten sollten, d.h. auch was ethisches und was unethisches Verhalten ist. Infolge der Zunahme von Menschen rund um die Welt, die implizit und/oder explizit ‚gottfreie‘ Einstellungen zum Leben und Tod teilen und äussern, kommt es vermehrt vor, dass ein metaphysischer Glaube in der einen Gemeinschaft mit einer menschenbezogenen Erwartung in einer anderen Gemeinschaft konfrontiert bzw. gleichgesetzt wird.

Von einflussreichen Personen in von Menschen geschaffenen, politischen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Funktionen wird erwartet, dass sie ethische Vorbilder sind. Sie sollten also Personen sein, die gegenüber dem Rest der Gemeinschaft in der Lage sind, korrektes ethisches Verhalten zu zeigen. In solchen Kulturen üben Menschen das Recht aus

  1. nicht nur ihr Leben gemäss ihren eigenen ethischen Vorstellungen zu leben,
    sondern auch
  2. gemäss ihren jeweiligen ethischen Standpunkten das Verhalten anderer in Frage zu stellen und zu beurteilen.

Als Konsequenz der häufigeren Ausübung dieses Rechts werden die Menschen vermehrt für Folgendes sensibilisiert:

  1. für die mögliche Fehlbarkeit des menschlichen Verhaltens,
  2. für die mögliche Fehlbarkeit aller von Menschen aufgestellten oder von Menschen vertretenen ethischen Standpunkte,
  3. für den möglichen Missbrauch von selbst geschaffenen ethischen Standpunkten sowie
  4. für den möglichen Mangel an ethischer Integrität im Verhalten von Vorbildern und Vorgesetzten.

Für Personen in besonderen Funktionen und Positionen kann es sich als sehr anspruchsvoll herausstellen, den ethischen Erwartungen einer Gemeinschaft gerecht zu werden.

2.3 Die Scheinheiligkeits-Falle

Zu den vielen ethischen Herausforderungen, die es gibt, zählen persönliche Dilemmata. Wie ich in früheren Publikationen dargelegt habe 4, existieren kulturelle und ethische Konflikte nicht nur gegenüber der äusseren Welt, sondern auch im Individuum selbst. Der Mensch lebt in einer multiethischen Aussenwelt und sehr viele Menschen besitzen eine multiethische Innenwelt, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind. Ein ethisches Dilemma entsteht dann, wenn

  1. jemand mehr als ein Wertesystem verinnerlicht hat – d.h. mehr als eine Gruppe von Werten oder mehrere Priorisierungen der Werte untereinander – die wiederum das Verhalten des Betroffenen geprägt haben;
  2. die unterschiedlichen Wertesysteme in einen ernstzunehmenden Wettbewerb untereinander getreten sind.

Letzteres ist auch die Ursache von Verhaltensweisen, die selbsternannte moralische oder ethische Puristen als scheinheilig bezeichnen würden. Dies kommt vor, wenn das tatsächliche Verhalten eines Menschen von einem anderen Wertesystem geprägt wird, als demjenigen, das er gemäss seiner Funktion und seinem öffentlichen Ansehen gegen aussen vertritt.

Implizit oder explizit kundzutun, dass man nur einen einzigen ethischen Kodex vertritt, kann in der Tat leicht dazu führen, dass man als scheinheilig erscheint und kritisiert wird. In einer Fernsehdebatte mit Bill Clinton im Jahre 1998 machte Jiang Zemin verklausulierte, aber trotzdem eindeutige Anspielungen auf doppelte Standards, auf eine Scheinheiligkeit in den USA in Bezug auf die Einhaltung von Menschenrechten. Damit begegnete Jiang Zemin den Bemühungen von Bill Clinton ihn in Ethik zu unterweisen. Die Tatsache, dass Bill Clinton noch im gleichen Jahr vom Repräsentantenhaus, im Zusammenhang mit einer ausserehelichen Affäre mit Monica Lewinsky, einem Amtsenthebungsverfahren wegen Meineids und Behinderung der Justiz unterzogen wurde, unterstreicht die Verletzlichkeit monoethischer Belehrungen .

Grosse Teile der Gesellschaft sind immer wieder aufs Neue schockiert von Berichten über physischen und psychischen Missbrauch; dies betrifft vor allem Missbrauchsfälle, die von Einzelpersonen oder Institutionen begangen worden sind, von denen die Gesellschaft eine bestimmte ideologische Vorbildfunktion erwartet. Nicht nur Journalisten, sondern auch konkurrierende politische und ideologische Fraktionen nehmen begierig Verdächtigungen moralischer und ethischer Übertretungen auf – wie die Unterschlagung von Geldern, Skandale im öffentlichen Gesundheitswesen, Plagiarismus, sexuelle Ausbeutung von Minderjährigen etc. – um die Verdächtigen ins ‘ethische Rampenlicht‘ zu stellen. Viele angesehene Politiker, religiöse oder wirtschaftliche Führungspersönlichkeiten wurden auf der Basis von Enthüllungen über ihr unethisches und unmoralisches Verhalten unwiederbringlich ihrer Macht enthoben. Dieses Vorgehen erinnert an die Zerstörung der Leninstatuen nach dem Fall des Eisernen Vorhanges. Einmal gestürzt, können sie nie wieder aufrechtstehen.

Das häufige Vorkommen solcher ethischen und moralischen Überschreitungen und die vielen Medienberichterstattungen darüber führen zu einem Grad der Sensibilisierung, der verschiedene fundamentale Fragen aufwirft:

  1. Warum ist Ethik zu einem so regelmässig diskutierten Thema in der westlichen Welt geworden?
  2. Welche Konstellationen von Prämissen liegen Weltanschauungen wie dem liberalen, dem utilitaristischen und anderen ethischen Standpunkten zugrunde?
  3. Wie können solche Prämissen-Konstellationen Menschen dazu führen, sich auf eine Art und Weise zu verhalten, die innere Dilemmata erzeugt?
  4. Warum entsteht solche Dilemmata oft erst rückwirkend und in einer Weise, die – aus Sicht der Aussenwelt – den Wertesystemen widersprechen, zu denen die Betroffenen sich früher bekannt haben?

Antworten auf diese und verwandte Fragen stehen nicht im Zentrum dieses Artikels – vgl. Chappel‚ ‘Ethics and Experience, Life Beyond Moral Theory’ und Wiggins ‘Ethics, Twelve Lectures on the Philosophy of Morality’. 5 Die Tatsache aber, dass eine wachsende Anzahl von Menschen sich legitimiert fühlt, das ethische Verhalten und die ethischen Systeme von anderen in Frage zu stellen, deutet darauf hin, dass es eine inhärente Verhandelbarkeit für von Menschen geschaffene ethische Grundsätze gibt, auch wenn viele Menschen darauf konditioniert sind, genau dies zu leugnen.

2.4 Kulturelle und ethische Konditionierung

Sehr viele westliche Manager sind darauf konditioniert worden, eine universalistische, monokulturelle und monoethische Einstellung anzunehmen: Nur wenige sind aber dazu ausgebildet worden, die genauen Prämissen hinter unterschiedlichen ethischen Standpunkten zu erkennen und diese miteinander zu versöhnen. Damit bleibt für das Management von multinationalen Organisationen die obenerwähnte Wahl zwischen einem mono-ethischen und einem multi-ethischen Ansatz weitgehend eine rein theoretische Wahl.

Im März 2011 hielt der deutsche Journalist und Experte für den Mittleren Osten, Ulrich Tilgner, in Zürich einen Vortrag mit dem Titel “Ein Plädoyer für Neutralität”. Dieser Vortrag entpuppte sich als nichts anderes als eine Lobrede auf die Ausweitung der Demokratie nach westlichem Vorbild in Libyen und benachbarten Ländern. Eine mögliche Synthese zwischen lokalen und westlichen Kulturen oder eine partielle Annahme der westlichen Ethik wurde von Ulrich Tilgner nicht erwähnt. In Bezug auf die Ausweitung der westlichen Demokratie wirkten seine Ausführungen undifferenziert und absolut. Dementsprechend liessen seine Einschätzungen der gegenwärtigen Ereignisse in der Region seinen persönlichen, monoethischen Blickwinkel sehr deutlich erkennen.

Ein weiteres symptomatisches Beispiel für eine mono-kulturelle und mono-ethische Konditionierung ist der Gebrauch des Wortes ‘multikulturell’ in Stellungnahmen und Diskussionen über Unternehmenskultur. Die meisten Manager von internationalen Organisationen fühlen sich mit dem Begriff multikulturell ziemlich wohl, zumindest bis man ihnen Fragen wie die folgende stellt:

“Besitzt Ihre Unternehmung eine schwache Monokultur, eine starke Monokultur, eine schwache Multikultur oder eine starke Multikultur?”

Neunundneunzig Prozent der Manager, mit denen wir gesprochen haben, haben sich noch nie eine solche Frage gestellt. Üblicherweise betonen sie aber, dass der Begriff multikulturell einen hohen Stellenwert in der globalen Unternehmenskultur ihrer Organisation einnimmt. Sie sind sich offensichtlich nicht bewusst, dass es paradox ist, das Wort multikulturell in einer Aussage zu gebrauchen, die impliziert, dass ihre gesamte Organisation eine einzige Kultur besitzt. Auch wird von den Angestellten in vielen solchen angeblich multikulturellen Organisationen, dass sie sich an einen einzigen ethischen Verhaltenskodex zu halten haben, d.h. ungeachtet deren jeweiligen lokalen Kultur und Ethik.

Es ist dieselbe kulturelle Konditionierung, die dem fehlenden Bewusstsein für die Notwendigkeit einer adäquaten Ausprägung von interkultureller Kompetenz bei kulturüberschreitenden Projekten zugrunde liegt. Es werden nicht nur erhebliche Geldsummen, sondern auch sehr grosse Mengen sogenannten ‚sozialen Kapitals‘ und viele individuelle berufliche Karrieren bei solchen Projekten vernichtet. Einige Organisationen haben durch die systematische Entwicklung der interkulturellen Kompetenz ihrer Mitarbeitenden versucht, diese Probleme zu vermeiden. Die meisten, die wir beobachten konnten, haben ihre Anstrengungen jedoch wieder aufgegeben. Die Gründe dafür liegen nur teilweise darin, dass Leute in höheren Management-Positionen ausgewechselt werden. Auf einer fundamentaleren Ebene stelle ich eine schleichende Bewegung hin zu einer bestimmten Monokultur fest – nämlich zu einer universalistisch, individualistisch und atomistisch ausgerichteten Kulturansatz. Genau dieser Ansatz ist es, der bisher die vom Westen geführte Globalisierung dominiert hat – vgl. Robinson ‘The Ethical Implications of Feedback’. 6

Sehr häufig führt die kulturelle Konditionierung dazu, dass Menschen ihre Beziehungen auf der Basis eines mono-kulturellen, mono-ethischen Vertrauensbegriffes aufbauen. Sie haben Vertrauen zu ihren Partnern, solange diese ihre Erwartungen erfüllen und sie nicht enttäuschen. Erwartungen sind aber das Resultat einer bestimmten kulturellen und ethischen Einstellung und variieren demzufolge von einer Kultur zur anderen. Es ist deshalb nicht überraschend, dass bei kulturüberschreitenden Projekten grosse Frustrationen entstehen – sowohl durch unterschiedliche Erwartungshaltungen als auch dadurch, dass beide Parteien ihre Beziehung auf ihren jeweiligen Definitionen von Vertrauen aufgebaut haben. Sobald auf beiden Seiten Misstrauen entsteht, steuert das Projekt in eine Einbahnstrasse Richtung Scheitern. Dieses Muster ist sehr häufig bei internationalen Projekten zu beobachten, wovon bekanntlich siebzig Prozent scheitern – vgl. Morosini, ‘The Importance of Cultural Fit in Cross-Border Mergers and Acquisition Deals’ und Robinson ‘Why Have 70% of All Joint Ventures Failed?7.

Im politischen Umfeld hat es der britische Premierminister, David Cameron, nur wenige Wochen nach seinem Amtsantritt als richtig erachtet, an einer Sicherheitskonferenz in München am 11. Februar 2011 die folgende Erklärung abzugeben:

“Unter der Doktrin des staatlichen Multikulturalismus wurden verschiedene Kulturen ermutigt, einen eigenen Lebensstil zu führen. Es ist uns nicht gelungen, eine Vision der Gesellschaft zu entwerfen, der diese Gruppen gerne angehören möchten.”

Die Aussage von Herrn Cameron wurde auch durch die Erklärung der deutschen Bundeskanzlerin, Frau Angela Merkel, bestärkt, als sie am 17. Oktober 2010 deklarierte, dass die Bemühungen ihres Landes, nach dem zweiten Weltkrieg eine multikulturelle Gesellschaft zu schaffen, „vollumfänglich gescheitert“ seien. Diese beiden Politiker deuten mit ihren Aussagen an, dass in ihren Ländern kulturelle Gemeinschaften bestehen, deren ethische Standpunkte so stark voneinander abweichen, dass sie das Konzept eines ethisch geeinten Staates unterminieren. Eine solche Argumentation weist auf eine feste Grundeinstellung hin, die mono-ethische Lösungen sucht und für richtig hält.

Basierend auf ihren jeweiligen Ansichten bezüglich der Entwicklung der Weltgeschichte sind mehrere Autoren zum Schluss gekommen, dass die hegemoniale Durchsetzung einer einzigen Ideologie grundsätzlich der Verfolgung der eigenen materiellen Interessen dient und nicht nachhaltig ist. Genau wie in der Politik läuft auch in der Geschäftswelt die Durchsetzung eines einzigen ethischen Kodex Gefahr, nicht als nachhaltig angesehen zu werden. Wenn ein Unternehmen die universelle Gültigkeit eines bestimmten Verhaltens– oder Compliance–Kodex aus Wettbewerbsgründen bzw. Protektionismus geltend macht, dann ist damit zu rechnen, dass die ethische Haltung hinter dieser Strategie – d.h. die Ethik deren Ethik – eines Tages offengelegt werden könnte. Der Erste zu sein, der auf dem Mond oder in der Antarktis eine Fahne aufstellt, bedeutet heutzutage nicht mehr, dass der Rest der Welt diese Handlung als gültigen Besitzanspruch akzeptiert. Ähnlich verhält es sich bei dem Versuch, als Erster in einer bestimmten Branche eine ethische Zertifizierung zu erhalten und damit die Konkurrenten in einem Bieterverfahren für neue Projekte auszuschliessen. Solches Verhalten wirft ethische Fragen über den Gebrauch und Missbrauch von Ethik aus materiellem Eigeninteresse auf.

In der Geschichte gibt es viele Beispiele menschlicher Bestrebungen überall auf der Welt, ethische Grundsätze durchsetzen zu wollen, die sie für gottgegeben hielten oder von denen sie vorgaben, dass sie gottgegeben seien. Dasselbe gilt auch für von Menschen erstellte ethische Grundsätze wie ISO 26’000, ISAS Ethics 2010 oder den UK Bribery Act 2011.

Nicht alle Länder und Gemeinschaften haben sich diesen Bestrebungen unterworfen. In vielen dieser Länder und Gemeinschaften ist Widerstand entweder unmittelbar oder zu einem späteren Zeitpunkt entstanden. Im Zusammenhang mit den Ereignissen in Libyen hat der russische Premierminister, Wladimir Putin, am 21. März 2011 erklärt, dass die Uno-Resolution, die militärische Aktionen gegen das Gaddafi-Regime autorisierte, eine frappante Ähnlichkeit mit „mittelalterlichen Aufrufen zu Kreuzzügen” habe. Mit dieser Stellungnahme sprach Wladimir Putin bewusst den jahrhundertealten Widerstand der arabischen Welt gegen den ideologischen Kolonialismus des Westens an. Als die USA den 150. Jahrestag der Beendigung des Bürgerkrieges feierten, zitierte John Blake, ein Autor für CNN, am 11. April 2011 unterschiedliche Historiker, die argumentierten, dass eben dieser Bürgerkrieg auch heute noch ausgetragen werde. Es gibt eine Fülle von Beispielen von Menschen, die als Einzelpersonen oder als Gruppe ihre kulturelle und ethische Identität verteidigt haben, als sie mit einer von ihnen wahrgenommenen ideologischen Unterdrückung konfrontiert wurden.

Der Angriff vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in Manhattan – und damit auf die kulturellen Werte, die das Center verkörpert – wurde von einigen als eine Gelegenheit für die USA und andere westliche Kulturen betrachtet, über die Auswirkungen der Versuche zu reflektieren, den Rest der Welt, ideologisch und materiell zu dominieren. Es wurde als eine Chance für diejenigen Gesellschaften angesehen, die vorgängig darauf konditioniert wurden, ihre eigenen ethischen Standpunkte gegenüber anderen durchsetzen zu wollen. Diese Chance bestand darin,

  1. darüber zu reflektieren, dass sie selbst
    1. sich über die Zeit entwickelt haben und
    2. ihr Verständnis davon, was als ethisch und was als unethisch gilt, im Verlauf ihrer eigenen sozialen und materiellen Entwicklung geändert hat;
  2. darüber zu reflektieren, welche Prämissen dazu führen, dass sie anderen Gesellschaften das Recht und die Gelegenheit absprechen, ebenfalls ihre eigenen ethischen Grundsätze zu entwickeln;
  3. darüber zu reflektieren, wie die angestrebte universalistische Durchsetzung von Prämissen wie Gleichberechtigung, Fairness und freier Wille ihr Verständnis von ethischem und unethischem Verhalten einengen könnte – vgl. Robinson ‘The Value of Neutrality’ (op. cit).

Wie oben in Sektion 2.1 diskutiert, ist die Alternative zum mono-ethischen Ansatz ein multi-ethischer Ansatz. Das erfordert von Managern nicht nur, sich von den Grenzen ihrer eigenen kulturellen und ethischen Konditionierung zu lösen, sondern auch eine multi-ethische Einstellung zu verinnerlichen und ein beträchtliches Ausmass an interethischer Kompetenz zu entwickeln. Die Tatsache, dass ein angemessener Grad an interethischer Kompetenz weitgehend fehlt, ist wohl einer der Hauptgründe, diesen Artikel zu verfassen (siehe These 3).

In den Kapiteln 3 und 4 werde ich versuchen, zu erklären, was ich unter dem Begriff der interethischen Kompetenz verstehe und wie diese Kompetenz entwickelt und erfahren werden kann.

Im Kapitel 5, werden Christoph Brünner und ich beschreiben, wie die interethische Kompetenz angewandt werden kann, um Stress und Risiken, die mit Entscheidungsprozessen und Konfliktsituationen einhergehen, merklich abzubauen. Von entscheidender Bedeutung für die Auflösung interethischer Konflikte ist es, wie diese wahrgenommen werden und wie ihnen begegnet wird. Dies wird anhand von Beispielen aus dem wirklichen Leben aufgezeigt. Sehr oft wird die Auflösung eines interethischen Konflikts durch den Prämissen–Zirkelschluss behindert – d.h. dann, wenn für die Lösung eines Konflikts dieselben Prämissen verwendet werden, die der Entstehung des Konflikts zugrunde liegen. In den Beispielen werden wir aufzeigen, dass die interethische Kompetenz auch einen ethischen Raum schaffen kann, in dem Menschen die Möglichkeit haben, über ethische Standpunkte zu reflektieren und fundamental neue mögliche Lösungen für ihre ethische Konflikte zu erkunden.

3. Was ist mit dem Begriff interethische Kompetenz gemeint?

3.1 Einführung

Interethische Kompetenz ist die Fähigkeit, sich an der Schnittstelle zwischen verschiedenen ethischen Standpunkten angemessen zu verhalten.

Hinter dieser vereinfachten und eigentlich selbstverständlichen Definition liegt eine Reihe von Prämissen, die einer adäquaten Klarstellung bedürfen. Diese Definition wirft folgende Fragen auf:

  1. Was charakterisiert einen ethischen Standpunkt?
  2. Wer entscheidet darüber, welches Verhalten ethisch angemessen ist?
  3. Was ist der Unterschied zwischen interethischer Kompetenz und interkultureller Kompetenz?
  4. Was ist der Unterschied zwischen ethischer Kompetenz, multi-ethischer Kompetenz und inter-ethischer Kompetenz?

Ich werde zuerst auf die Fragen 1, 3 und 4 eingehen und dann zur Frage 2 am Ende dieser Sektion zurückkommen.

3.2 Wie lässt sich ein ethischer Standpunkt charakterisieren?

Ein ethischer Standpunkt ist eine Konstellation von Werten und damit einhergehenden Priorisierungen, d.h. ein Wertesystem, das menschliches Verhalten betrifft und zu einem gegebenen Zeitpunkt als unterschiedlich zu anderen Wertesystemen wahrgenommen wird.

Deshalb erhalten ethische Standpunkte – ebenso wie die persönliche oder kulturelle Identität – ihre Relevanz durch die wahrgenommene Koexistenz von einem oder mehreren, verschiedenen, aber vergleichbaren Phänomenen.

Ein ethischer Standpunkt kann von einer Einzelperson oder einer ethischen Gemeinschaft eingenommen werden.

Eine Person kann einen oder mehrere ethische Standpunkte gleichzeitig vertreten, solange diese voneinander unterscheidbar sind.

Ethische Standpunkte können implizit und/oder explizit in Worten oder Taten ausgedrückt werden.

Die Vertreter eines ethischen Standpunktes können nach ihrem Verständnis diesen anwenden

  1. nur auf sie selbst,
  2. auf sie selbst und nur auf die anderen Mitglieder derselben ethischen Gemeinschaft oder
  3. auf sie selbst und auf grössere gesellschaftliche Gruppen inkl. der ganzen Menschheit.

Die Vertreter eines ethischen Standpunktes können nach ihrem Verständnis diese anwenden

  1. strikt zu jeder Zeit oder
  2. situationsbedingt und z.B. mit unterschiedlich hohem Intensitätsgrad.

Daraus folgt, dass es wahrnehmbare Diskrepanzen zwischen den Taten und den Äusserungen der Vertreter eines ethischen Standpunktes geben kann.

3.3 Was ist der Unterschied zwischen ethischer Kompetenz, multi-ethischer Kompetenz und inter-ethischer Kompetenz?

Um eine sinnvolle Unterscheidung zwischen diesen drei Begriffen zu treffen und die obige Definition intakt zu lassen, können die ersten beiden Begriffe folgendermassen definiert werden:

Ethische Kompetenz ist die Fähigkeit, sich in Übereinstimmung mit einem gegebenen ethischen Standpunkt zu verhalten.
Multi-ethische Kompetenz ist die Fähigkeit, sich in Übereinstimmung mit mehr als einem gegebenen ethischen Standpunkt zu verhalten.

Gestützt auf diese Definitionen, können wir argumentieren, dass

  1. ethische oder multi-ethische Kompetenz in einer Person, sie nicht daran hindert, interethisch kompetent aufzutreten;
  2. eine Person ihre multi-ethische Kompetenz in eine interethische Kompetenz weiterentwickeln kann, aber die erste nicht notwendigerweise eine Voraussetzung für Letztere ist.

Daraus folgt, dass eine Person mit multi-ethischer Kompetenz nicht notwendigerweise inter-ethisch kompetent sein muss. Mit anderen Worten gibt es einen Unterschied zwischen der Fähigkeit, sich an der Schnittstelle von verschiedenen ethischen Standpunkten angemessen zu verhalten und derjenigen, sich innerhalb eines oder mehrerer ethischer Umfelder oder innerhalb von Gemeinschaften angemessen zu verhalten. An diesem Punkt wird die Fragestellung des Betrachters relevant – ein Punkt, zu dem ich unter 3.5. zurückkehren werde.

Was ist der Unterschied zwischen interethischer Kompetenz und interkultureller Kompetenz?

Gemäss dem aktuellen Gebrauch in der Literatur und in Wörterbuch-Definitionen, können die Begriffe Moral, Ethik und Kultur in vielen Zusammenhängen austauschbar angewandt werden.

Die Bedeutung von Moral wird manchmal mit derjenigen der normativen Ethik in Verbindung gebracht – dies im Sinne, dass Regeln aufgestellt und angewandt werden, die sich darauf beziehen, was im menschlichen Verhalten gut oder schlecht sein soll. Die normative Ethik unterscheidet sich von der deskriptiven Ethik insofern, als Letztere von ihrem Charakter her nicht wertend ist.

Das Wort Kultur hat eine Vielzahl von Bedeutungen – eine, die sich mit Ethik und Moral dann überschneidet, wenn es um eine gemeinsam vertretene Gruppe von Sitten, Werten und Verhaltensmustern geht, die von Mitgliedern einer bestimmten Gemeinschaft gelebt werden.

Die Tatsache, dass die Begriffe Ethik und ethisch – jedenfalls in der westlichen Welt – oft mit einer normativen Bedeutung verwendet werden, würde es ermöglichen, eine Unterscheidung vorzunehmen, indem Ethik normativ und Kultur umschreibend und nicht wertend verwendet werden.

An einer Konflikt-Schnittstelle zwischen Einzelpersonen oder Gemeinschaften, die jeweils unterschiedliche ethische Standpunkte einnehmen oder verschiedenen Kulturen angehören, wird es weniger einfach, eine sinnvolle Unterscheidung zwischen den Begriffen Ethik und Kultur zu treffen; die Konfliktparteien verfügen schlicht über unterschiedliche Wertesysteme. Sobald man anerkennt, dass einige Kulturen normativer sind als andere, wird es schwierig, diese Unterscheidung aufrechtzuerhalten. Demzufolge stehen die Begriffe interethische Kompetenz und interkulturelle Kompetenz sehr nahe beieinander. Vielleicht liegt die wichtigste Erkenntnis gerade darin, dass das Thema Ethik vorwiegend in Kontexten erscheint, wo mindestens eine der beteiligten Parteien einen starken normativen Standpunkt einnimmt, den sie mit einem relativ hohen Mass an Durchsetzungswillen vertreten und anwenden will.

An dieser Stelle kommt die Frage auf, weshalb eine Person oder eine Gemeinschaft bestrebt sein sollte, einen gewissen ethischen Standpunkt mit normativer Strenge zu vertreten.

  1. Ist die Partei, der es gelingt, ethische Normen zu etablieren und ihre universelle Gültigkeit zuerst durchzusetzen, die Partei, die letztlich dominieren wird? Mit anderen Worten ist Ethik oder der Gebrauch von ethischen Standards einfach eine andere Form des Prinzips, dass nur der Stärkste überlebt?
  2. Wird Ethik von manchen als eine Form von wirtschaftlichem oder sogar ideologischem Protektionismus verwendet – genauso wie einige Parteien das Strafrechtssystem verwenden, d.h. dass sie z.B. andere während des Verhandlungsprozesses Verbrechen bezichtigen, um ihre eigenen zivilen und wirtschaftlichen Interessen zu schützen?

Mit anderen Worten mag es bei der Durchsetzung eines ethischen Standpunkts Motive geben, die für sich Ausdruck einer bestimmten Reihe oder eines bestimmten Systems von kulturellen Werten sind. Diese verdeckte Schicht von Motiven hinter dem Versuch, einen bestimmten ethischen Standpunkten durchzusetzen, kann der Lösung von ethischen Konflikten beträchtliche Schwierigkeiten bereiten, wie wir im Kapitel 5 diskutieren werden. Die interethische Kompetenz kann u.a. dazu beitragen, offenzulegen, wie stark die Motive hinter zum Beispiel altruistisch formulierten ethischen Beteuerungen einer gewissen Partei in Tat und Wahrheit den eigenen Interessen dienen und letztlich gar nicht so altruistisch sind.

3.5 Wer entscheidet darüber, welches Verhalten ethisch angemessen ist?

Im Fall von ethischer oder multi-ethischer Kompetenz sind es die Mitglieder der jeweiligen ethischen Gemeinschaften, die in der Lage sind, darüber zu entscheiden, wessen Verhalten
ethisch angemessen ist oder nicht. Jedes handelnde Individuum hat auch die Möglichkeit, selbst
sein eigenes Verhalten darauf zu überprüfen, ob es dem eigenen ethischen Standpunkt
entspricht. Auf diesen Punkt werde ich unter 4.2. zurückkommen.

Im Falle von interethischer Kompetenz müssten alle Mitglieder verschiedener ethischen Gemeinschaften, die in eine bestimmte Situation – z.B. in einen ethischen Konflikt – involviert sind, das Verhalten einer Person, die zwischen ihnen steht, als angemessen wahrnehmen. Damit dies der Fall sein kann, müssten die ethischen Gemeinschaften – abhängig von den kulturellen Umständen und der jeweiligen Situation – in der Lage sein, das Verhalten dieser Person als ethisch neutral und/oder ethisch empathisch zu betrachten. In den folgenden Ausführungen werde ich mich auf das Thema der ethischen Neutralität konzentrieren, um dann in Sektion 4.5 näher auf die ethische Empathie einzugehen.

4 Entwickeln und Erfahren von ethischer Neutralität

4.1 Einführung

Nach meinem heutigen Verständnis der oben erwähnten Begriffe ethische Neutralität und kulturelle Neutralität sollten diese Begriffe nicht mit dem Begriff der Neutralität verwechselt werden, wie er allgemein in Europa oder Nord Amerika verwendet wird. Neutralität, wie sie z.B. im westlichen Verständnis der Mediation angewendet wird, assoziiert im allgemeinen ein Rollenverständnis einer unparteiischen Haltung gegenüber den Konfliktparteien; es wird angenommen, dass ein Verhältnis von grundsätzlicher Gleichberechtigung zwischen den Parteien besteht, die die Suche nach einem Konsens als Lösung mit der Hilfe eines Mediators möglich macht (für eine detailliertere Behandlung der Unterscheidung zwischen Neutralität und kultureller Neutralität siehe Robinson‚ ‚The Value of Neutralityop.cit). Die vorherrschende westliche Denkweise ist darauf vorprogrammiert, das Konzept der ethischen Neutralität so zu verstehen, dass alle ethischen Standpunkte als gleichwertig betrachtet werden. Das ist der Grund weshalb die Begriffe kulturelle und ethische Neutralität oft mit kulturellem und ethischem Relativismus gleichgesetzt werden. Aber bedeutet ethisch neutral zu sein, dass man ein ethischer Relativist ist? Analog zu meinem Gebrauch dieser Begriffe in diesem Artikel mache ich die folgenden Unterscheidungen:

Der Begriff ethischer Relativismus wird oft in dem Sinn gebraucht, dass wer auch immer ein ethischer Relativist ist – bzw. vorgibt, einer zu sein – anerkennt, dass

The term ethical relativism is often used in the sense that whoever holds the quality of ethical relativism – or purports to hold it – recognizes

  1. eine Vielfalt von ethischen Standpunkten existiert,
  2. alle ethischen Standpunkte untereinander relativ sind und demzufolge den gleichen Status haben und
  3. demzufolge keine Beurteilung über besseres oder schlechteres ethisches Verhalten seitens einer Einzelperson oder einer Gruppe erfolgen kann.

Da die Prämisse der Parität in diesem allgemeinen Verständnis des Begriffs des ethischen Relativismus gegenwärtig ist, macht es Sinn, diesen Begriff beizubehalten unter der Voraussetzung, dass wir einen anderen Begriff für einen Geisteszustand verwenden, der nicht notwendigerweise Parität oder irgendeine andere ethisch relevante Prämisse voraussetzt. In diesem Artikel nenne ich diesen Geisteszustand die interethische Kompetenz. Letztere ist eine Vorbedingung, dass man von Dritten als ethisch neutral betrachtet wird.

Unter anderem erkennt die interethische Kompetenz konsequenterweise an, dass es sowohl die Möglichkeit einer Gleichwertigkeit als auch die Möglichkeit einer Nicht–Gleichwertigkeit zwischen ko-existierenden ethischen Standpunkten gibt. Es ist nicht Aufgabe des interethischen Vermittlers auf implizite oder explizite Art dafür zu sorgen, dass in einem interethischen Konfliktlösungsprozess Parität herrscht oder den Prozess in Richtung eines Konsenses zwischen Parteien zu steuern, wie wenn die Parteien notwendigerweise gleiche Rechte hätten. Andererseits kann es vorkommen, dass die Paritätsprämisse für die beteiligten Konfliktparteien gültig ist und somit durch die Mitwirkung eines interethischen Vermittlers aufrechterhalten werden soll.

In Anerkennung der Prämissen, die dem westlichen Verständnis der Neutralität zugrundeliegen, kann man damit beginnen, eine Stufe der interkulturellen und interethischen Kompetenz zu erlangen, die keine Standpunkte über Prämissen wie Parität, Fairness, Verantwortung oder jedem anderen Begriff – implizit und a priori – einnimmt.

Hinter der oben erwähnten Verbindung zwischen interethischer Kompetenz und dem Konzept, dass man unter gewissen kulturellen und situativen Umständen als ethisch neutral angesehen wird, steckt die These, dass die ethische Neutralität im Wesentlichen von der Wahrnehmung des Betrachters abhängt. Dementsprechend gilt: Wenn eine Person nicht als ethisch neutral angesehen wird, dann ist sie es de facto nicht. Eine der vielen Herausforderungen für Personen, die über viele der inneren Voraussetzungen für interethische Kompetenz verfügen, liegt darin, dass viele Aussenstehende weder sensibilisiert noch darauf eingestellt sind, ethische Neutralität wahrzunehmen, wenn sie damit konfrontiert werden bzw. ethische Neutralität als etwas Angemessenes zu betrachten. Ich werde auf diesen zentralen Punkt in den weiteren Kapiteln zurückkommen.

4.2 In welchem Ausmass kann eine Person im Verhältnis zu ihren eigenen ethischen Standpunkten ethische Neutralität ausüben?

Diese Frage verändert die Position des Betrachters von einem externen Dritten zurück zu einer Person, die einen oder mehrere spezifische ethische Standpunkte verinnerlicht hat. Um ethische Neutralität in Bezug auf die eigenen ethischen Grundsätze ausüben zu können, muss diese Person willens und fähig sein, die Angemessenheit der verschiedenen Grundsätze in bezug auf die Situation und/oder den Kontext wahrzunehmen und zu hinterfragen. Ich gehe von der Ansicht aus, dass dieser Prozess des Wahrnehmens und des Infragestellens bewusst oder unbewusst stattfinden kann; d.h. es muss nicht unbedingt ein bewusster Prozess sein – vgl. Robinson, ‘The Value of Neutrality(op. cit). Um in den Zustand der ethischen Neutralität zu gelangen, muss die betreffende Person in der Lage sein, sich von allen verinnerlichten Standpunkten zu distanzieren. Mit anderen Worten muss diese Person

  1. fähig sein, nicht nur ethische Dissonanzen in der Aussenwelt wahrzunehmen, sondern diese auch zwischen der eigenen Innen- und der Aussenwelt wahrzunehmen (und, im Falle der multi-ethischen Kompetenz, die ethischen Dissonanzen auch in der eigenen Innenwelt wahrzunehmen) und
  2. gewillt und fähig sein, die persönliche Verbindung mit den verinnerlichten ethischen Standpunkten aufzugeben.

Wenn der Prozess der Sozialisierung die Menschen darauf konditioniert, einen bestimmten ethischen Standpunkt zu internalisieren und danach zu handeln, den sie dann mit anderen in der gleichen sozialen/kulturellen und ethischen Gemeinschaft teilen, dann muss die interethische Kompetenz von wahrhaft sozialisierten Leuten die Fähigkeit beinhalten, ethische Standpunkte zu neutralisieren, die sie verinnerlicht haben und die sie in gewissen Situationen authentisch geltend machen können.

Mit anderen Worten muss die interethische Kompetenz, die Fähigkeit einschliessen,

  1. interethische Kompetenz auf sich selbst anzuwenden und
  2. sich selbst als neutral gegenüber ethischen Standpunkten anzusehen und zu erleben, die man andererseits authentisch vertreten und anwenden kann.

Die Fähigkeit der multi-ethischen Kompetenz könnte in dem Sinn ähnlich erscheinen, dass sie einer Person erlaubt, voneinander abweichende ethische Standpunkte wahrhaftig anzunehmen und diese authentisch anzuwenden. Sie unterscheidet sich aber grundlegend von der inter-ethischen Kompetenz, da diese voraussetzt, dass man sich als ethisch neutral betrachten und erleben kann, während dies bei der multi-ethischen Kompetenz nicht der Fall ist.

4.3 Der Unterschied zwischen Wahrnehmungen und Wahrnehmen

Eines der zentralen Elemente der ethischen Neutralität ist die Fähigkeit, etwas zu spüren oder wahrzunehmen. Bis jetzt habe ich in diesem Artikel die ethische Neutralität im Grundsatz als eine Wahrnehmung seitens des Betrachters definiert – dies in Analogie zu meiner früheren Behandlung der kulturellen Neutralität (vgl. ‘The Value of Neutrality’, 2007). An diesem Punkt sehe ich mich gezwungen, den Begriff der Wahrnehmung weiter zu erläutern und zu ändern, nicht zuletzt aus der Tatsache heraus, dass ich bisher das Substantiv, die Wahrnehmung, verwendet habe.

Im allgemeinen werden Substantive für identifizierbare Sachen verwendet – Sachen, die in einem ‚objektiven‘ Sinn existieren (cf. ‘signifiers,’ Ferdinand de Saussure, 1922) 8. Wahrnehmungen hingegen betreffen grundsätzlich nicht eine objektive, sondern eine subjektive Erfahrung. Dies erklärt auch weshalb es für Menschen so schwierig ist, Wahrnehmungen untereinander auszutauschen.

Im allgemeinen Gebrauch scheinen Wahrnehmungen für die meisten Menschen untrennbar mit damit einhergehenden Beurteilungen und/oder Meinungen verbunden zu sein. Meinungen entstehen als Resultat der Verarbeitung und Integration von Informationen aus Sinnesreizen in einen bestehenden Informationsfundus, der von individuellen, kulturellen und ethischen Werten geprägt ist. Dieser Prozess erlaubt es Menschen zu etwas zu gelangen, was ich als ihre Ansichten oder ihre gewerteten Wahrnehmungen bezeichnen möchte. Ansichten können objektiviert werden und man kann darüber sprechen. So fängt der Gebrauch des Substantivs Wahrnehmung ganz passend etwas ein, was oft passiert, wenn Leute wahrnehmen und wenn sie darüber sprechen, was sie wahrgenommen haben.

Der innere mentale Prozess der kulturellen und ethischen Neutralität beinhaltet andererseits die Fähigkeit oder die Veranlagung:

  1. offen zu sein, um jenseits des eigenen Bezugsrahmens wahrzunehmen und
  2. nicht das Bedürfnis zu haben, sensorisch wahrgenommene Informationen in einen Bezug zu einem vorbestimmten Wertesystem zu setzen.

Wie oben erwähnt, bedingt dieser mentale Prozess auch:

  1. die Fähigkeit, ethische Dissonanzen in der Aussenwelt, zwischen der Innen– und Aussenwelt und auch in der Innenwelt zu erkennen und
  2. die Bereitschaft und Fähigkeit den persönlichen Bezug zu allen verinnerlichten ethischen Standpunkten aufzulösen.

Als Kontrast zum Gebrauch des Substantivs Wahrnehmung bezeichnet das Wort wahrnehmen einen Prozess, der andauert. Grammatikalisch gesehen ist wahrnehmen bzw. Wahrnehmen ein Gerundium und erhält so einen Status zwischen einem Substantiv und einem Verb. Das Wort wahrnehmen ist zweifellos ein Begriff, der besser geeignet ist für den Prozess, der der inneren ethischen Neutralität und der interethischen Kompetenz zugrunde liegt. Als Gerundium beinhaltet es ein nicht abgeschlossenes, d.h. ein offenes und andauerndes Verarbeiten von mit verschiedenen Sinnen wahrgenommenen Informationen.

Die Differenzierung zwischen dem Substantiv Wahrnehmung als objektivierbarer Ansicht und wahrnehmen als zeitlich nicht begrenztes, nicht bewertendes und nicht beurteilendes verarbeiten von mit den Sinnen aufgenommenen Informationen wirft Licht auf die häufig verwendete Aussage, dass

„es so etwas wie Neutralität gar nicht gibt.“

Auf der Prämisse basierend, dass die Qualität des inneren Neutral-Seins ‚per definitionem‘ nicht objektivierbar ist oder beurteilt werden kann, muss die Aussage, dass es so etwas wie Neutralität nicht gebe, bestätigt werden.

Für Leute, die dabei sind ihre interkulturelle und interethische Kompetenz zu entwickeln, könnte es tatsächlich ein erster hilfreicher Schritt sein, zu realisieren, dass Neutralität nicht ist. Eine weitere hilfreiche Erkenntnis könnte darin liegen, zu realisieren, dass die Wurzeln unseres Gebrauchs und des Verstehens von Begriffen wie Neutralität und Empathie in der westlichen Kultur und Geschichte verankert sind. Durch das Erkennen der kulturellen Wurzeln der Anwendung von Konzepten wie Neutralität und Empathie kann man

  1. ein in kultureller Hinsicht bedeutend breiteres Verständnis dieser Konzepte entwickeln und
  2. sich bewusst werden, dass solche Konzepte für einige ethische Gemeinschaften und Situationen nicht geeignet sind.

4.4 Erfahren von ethischer Neutralität als dritte Person

Während die inneren mentalen Voraussetzungen, die dazu beitragen, als ethisch neutral wahrgenommen zu werden, anspruchsvoll zu entwickeln sind, sind Dritte als Betrachter tatsächlich fähig, andere Menschen in bestimmten Situationen als neutral oder nicht neutral wahrzunehmen.

Betrachter, die von demokratischen Werten geprägt und konditioniert worden sind, sind allgemein in der Lage, herauszuspüren, ob eine andere Person, z.B. ein Mediator/-In, sich tatsächlich in einem gewissen Kontext in Bezug auf Themen oder Personen unparteiisch benimmt oder nicht. Während der Sinn für – und die Sensibilität zu – Unparteilichkeit ist ein natürliches Produkt jener Gesellschaften ist, die Gleichberechtigung und zwischenmenschliche Parität vertreten, ist es wichtig zu verstehen, dass Unparteilichkeit nicht die einzige Form ist, als neutral angesehen zu werden. Die kulturellen Wurzeln von westlichen Mediatoren/-Innen, die auf der Basis der Unparteilichkeit vorgehen, werden von Leuten aus anderen Kulturkreisen, sofort bemerkt werden, wenn sie eine solche Unparteilichkeit, z.B. in einer Konfliktsituation, anwenden. In diesen Situationen wird der/die Mediator/-In mindestens von einer der Konfliktparteien nicht als kulturell neutral eingeschätzt werden.

Mit anderen Worten bringen kulturelle und andere Formen der Prägung einen sehr starken, wenn nicht einen bestimmenden Einfluss mit sich, wie Menschen Neutralität wahrnehmen, definieren und bewerten – und auch ob sie der Neutralität Relevanz oder einen Stellenwert beimessen. Aus diesem Grund habe ich argumentiert, dass Neutralität in der Sichtweise des Betrachters liegt.

Unter der Annahme, dass die Anwendung innerer ethischer Neutralität – wie sie hier definiert wird – tatsächlich für bestimmte ethische Gemeinschaften angemessen ist, würde dies für eine(n) interethische(n) Vermittler/-In bedeuten, dass er/sie

  1. das Vorhandensein und die Angemessenheit von unterschiedlichen Prämissen und die darin enthaltenen Werte wahrnehmen kann und
  2. 2. beobachtet wird, danach zu handeln und damit angemessen zu handeln.

Die innere ethische Neutralität oder Nicht-Neutralität einer Person kann sich dem aussenstehenden Betrachter nicht nur in den Prämissen offenbaren, die mittels der Sprache zum Ausdruck gebracht werden, sondern auch in Veränderungen im Gesichtsausdruck, der Körpersprache und in der energetischen Präsenz. Auch wenn die Sprache, die eine Person in einer gegebenen Situation verwendet als ethisch neutral interpretiert werden könnte, können die begleitenden Merkmale in der Körpersprache, der Augensprache und im Gesichtsausdruck erkennen lassen, inwieweit der innere mentale und emotionale Zustand dieser Person im Einklang mit dem steht, was sie verbal ausdrückt.

Wenn eine Person ethische Neutralität in Situationen, wo sie nicht angebracht ist, bzw. wenn sie ethische Neutralität permanent anwenden würde, könnte dies eine betrachtende Drittpartei sehr schnell bemerken. Die meisten Menschen müssen irgendwann im täglichen Leben in Kontakt mit anderen Menschen treten und ihr Verhalten und ihre Meinungen in irgendeiner Form an diejenige ihres Umfelds anpassen. Die dauernde und als unpassend empfundene Anwendung der inneren ethischen Neutralität kann gesellschaftlich als störend empfunden werden. Menschen wollen nicht immer hören, dass es verschiedene Arten gibt, eine Situation zu betrachten, d.h. eben eine Situation von verschiedenen ethischen Standpunkten aus zu sehen.

4.5 Ethische Empathie

Ich werde nun mein bisheriges Verständnis des Begriffs ethische Empathie darlegen und in welcher Beziehung die ethische Empathie zur interethischen Kompetenz steht.

Im Kapitel 3 habe ich die Ansicht vertreten, dass die interethische Kompetenz einen vorurteilsfreien Prozess bedingt, des nicht wertenden und nicht beurteilenden wahrnehmens. Die ethische Empathie erlaubt es, zu jedem gegebenen ethischen Standpunkt relativ einfach den Zugang zu finden und ihn relativ schnell in die eigene Gedanken- und Gefühlswelt zu absorbieren. Sich in irgendeinen ethischen Standpunkt durch ethische Empathie hineinzufühlen, schliesst aus, dass man mit den mentalen und emotionalen Prozessen der Bewertung und des Vergleichs ringt. So ist es nicht notwendig, eine Unterscheidung zwischen ethischer und anderen Formen von Empathie zu machen, wenn der Begriff Empathie als ein nicht selbstbezogenes und nicht urteilendes einfühlen in die Eigenheiten von mentalen und emotionalen Zuständen anderer Leute verstanden wird.

Sobald man die Erkenntnisse verinnerlicht, dass es

  1. nicht möglich ist, mit anderen Leuten auf eine identische Art zu denken und zu fühlen, und
  2. in der Rolle eines/einer interethischen Vermittlers/-In ratsam ist, keine Annahmen zu treffen, keine Erwartungen an die Parteien zu hegen bzw. keine Urteile über sie zu fällen

erlebt man, wie man sich der Einzigartigkeit der Innenwelt anderer Menschen nähert, einfach weil so immer weniger selbst geschaffene, mentale und emotionale Barrieren überwunden werden müssen. Sogar die Frage:

  • „Will ich mich der inneren Welt dieser Person nähern?”

stellt sich nicht unter diesem Verständnis von Empathie. Ebenfalls entstehen keine Empathie-hemmende Denkprozesse wie:

  • „Ich weiss genau wie sich diese Person fühlt.”
  • „Ich war selbst an diesem Punkt.”

Als Leitfaden für die eigene Entwicklung kann die Erkenntnis dienen, dass, je mehr menschlichen Eigenarten man sich mittels der interethischen Kompetenz nähern kann, desto grösser sind die Chancen als authentisch ethisch-neutral wahrgenommen zu werden.

Ein solches Verständnis von ethischer Empathie unterscheidet sich natürlich von ethischer Sympathie und ethischer Antipathie insofern, als diese beiden Begriffe Werturteile beinhalten, die die ethische Empathie gerade nicht enthält. Die Ethische Empathie heisst auch nicht, dass man einen gewissen ethischen Standpunkt befürwortet, beachtet oder faszinierend findet; sie bedeutet vielmehr, die Existenz von verschiedenen ethischen Standpunkten als Tatsache des menschlichen Lebens anzuerkennen. Diese Form der Anerkennung beinhaltet aber kein persönliches Einverständnis mit oder ein Eingebundensein in diese ethischen Standpunkte.

Daraus folgt, dass die ethische Empathie mit der inneren ethischen Neutralität und somit mit der interethischen Kompetenz einhergeht.

An diesem Punkt möchte ich betonen, dass die ethische Empathie, die ethische Neutralität und die interethische Kompetenz von einem Geisteszustand ausgehen, der u.a. in der Lage ist, mit folgenden Phänomenen umzugehen:

  1. Asymmetrien in Beziehungen ebenso wie mit Gleichheit, sei es nach Geschlecht, Generationenzugehörigkeit oder gesellschaftlicher Stellung;
  2. einer strukturierten, vorausschauend-vorbeugenden Art die Welt zu ordnen, sowie mit einer gegenwarts- oder vergangenheitsausgerichteten Art;
  3. individualistischen wie auch mit kollektivistischen Prämissen;
  4. den Werten des Tuns, Leistens und Habens sowie mit den Werten des Seins, der Natur und des Eins-Seins mit der Welt;
  5. dualistisch-atomistischen wie auch mit holistischen Prämissen;
  6. universalistischen und auch partikularistischen Prämissen – vgl. Hampden-Turner, ‘Corporate Culture’. 9

4.6 Das Schaffen und Erfahren von ethischem Raum

Wie in der Einführung dieses Artikels erwähnt wurde, kann die interethische Kompetenz ein Umfeld von ethischem Raum schaffen, in dem Menschen die Gelegenheit haben über

  1. ihre jeweiligen ethischen Standpunkte zu reflektieren und diese zu entwickeln und/oder
  2. mögliche Lösungen für ihre ethischen Dilemmata und Konflikte zu erkunden.

Nicht selten beinhaltet die Lösung von kulturellen und ethischen Konflikten mehrheitlich, was ich in früheren Artikeln als identity management bezeichnet habe – vgl. Robinson, ‘The Value of Neutrality’ sowie Faure & Rubin, ‘Culture and Negotiation’. 10

Die Tatsache, dass kulturelle und ethische Werte ein Hauptelement unserer persönlichen und kollektiven Identität darstellen, bedeutet, dass ethische Konflikte oft unmöglich zu lösen sind, wenn nicht eine kulturelle oder ethische Entwicklung unter den involvierten Parteien stattfindet. Eine solche Entwicklung kann dadurch erleichtert werden, dass den Parteien ethischer Raum zur Reflektion zur Verfügung gestellt wird.

Nicht nur im Falle von Einzelpersonen, sondern auch bei Gruppen und Organisationen kann es nützlich sein, ethische Profile zu erstellen und diese zu diskutieren. Leute sind offener für ein solches Vorgehen wenn sie wissen, dass das Erstellen ihres ethischen Profils in einem vorurteilsfreien, ethisch neutralen Umfeld stattfinden wird. Wenn im Vorfeld eines Konfliktlösungsprozesses alle Konfliktparteien von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, kann dieser beträchtlich verkürzt werden und auf einer wesentlich fundamentaleren Ebene stattfinden, was sich auf die Nachhaltigkeit der erarbeiteten Lösung auswirken wird.

Wie ich in früheren Artikeln dargelegt habe, gibt es nur wenige Konflikte, die aus meiner Sicht keine kulturellen oder ethischen Dimensionen haben, weil es Werte sind, die an der Quelle der meisten zwischenmenschlichen Konflikte liegen und deren Lösung behindern. Daraus folgt auch, dass fast alle Konfliktlösungs-Prozesse davon profitieren könnten, wenn rundherum – mit oder ohne die Mitwirkung von interethisch kompetenten Vermittlern/Innen – das entsprechende Mass an ethischem Raum geschaffen wird, um individuelle Reflektion und kollektive Entwicklung zu ermöglichen.

5. Beispiele für ethische Herausforderungen, mit denen Personen in Schlüsselpositionen konfrontiert wurden, und für die Anwendung von interethischer Kompetenz in solchen Situationen.

In der Behandlung der folgenden Beispiele werden wir zuerst den Fall selbst erläutern. In
der Folge werden wir die bestehenden, in Konflikt zueinander stehenden Standpunkte identifizieren und diskutieren. Schliesslich werden wir die Rolle der interethischen Kompetenz und die Möglichkeit der Nutzung von ethischem Raum analysieren, um eine ethische Entwicklung zu ermöglichen und so die Konfliktlösung zu erleichtern.

Die in den anonymisierten Fallbeschreibungen zur Verfügung gestellten Informationen beschreiben notwendigerweise viele Details, um die wesentlichen Facetten der verschiedenen ethischen Konflikte möglichst adäquat abzubilden. Es ist selbstverständlich, dass ethische Konflikte komplexe Phänomena darstellen und dass die Fähigkeit der interethischen Kompetenz auch die Fähigkeit einschliesst, mit Komplexität auf der inhaltlichen Ebene, auf der Beziehungsebene und auch auf der Prämissenebene umzugehen.

Als eine übergeordnete Bemerkung machen wir den Leser darauf aufmerksam, dass die Beschreibungen und Diskussionen notwendigerweise so formuliert sind, dass sie für westliche Vorstellungen möglichst verständlich sind. Ausserdem sind die Autoren an die schriftliche Darstellungsweise gebunden – und auch daran, dass Begriffe wie Wahrnehmungen und Ansichten im Gegensatz zu wahrnehmen verwendet werden müssen. Daraus folgt, dass durch die verwendeten Formulierungen die Denkprozesse der vielen involvierten Parteien nicht adäquat abgebildet werden können und es so nicht möglich ist, die in Frage stehenden Themen in ihrer Gesamtheit zu erfassen.

In einem Versuch, den Umfang der Informationen und die Komplexität zu reduzieren, wird bei der Beschreibung und Diskussion dieser Fälle das Augenmerk auf die Dilemmata einer bestimmten Partei gerichtet – und wie die Dilemmata dieser Partei aufgelöst werden können. Die Informationen an sich mussten dabei komprimiert und vereinfacht werden, um so den Umfang zu reduzieren und die Lesbarkeit zu optimieren. In den Fällen 1 und 3 wurden insbesondere die Namen und die Örtlichkeiten anonymisiert. Auch wurden bestimmte Inhalte bewusst geändert, um die Identität betroffener Parteien zu schützen.

In Fall 1 haben wir es mit einem Manager zu tun, der es anfänglich einfacher findet, sich mit den ethischen Dilemmata an seiner Arbeit als mit denjenigen in seinem Privatleben auseinanderzusetzen. Mit der Erhöhung des mentalen und emotionalen Drucks sucht er die Unterstützung einer Drittpartei. Der ethische Raum, der ihm zur Verfügung gestellt wird, erlaubt es ihm

  1. das umfassende Spektrum seiner Dilemmata zu erkennen und zu thematisieren,
  2. seine interethische Kompetenz zu entwickeln und
  3. auf seine eigene Art langfristige Lösungen zu finden, mit denen er sich identifizieren kann.

Diese erste Fallstudie zeigt auch auf, dass verschiedene Faktoren ausserhalb seines Einflussbereichs liegen und dass er nicht alle zukünftigen Entwicklungen kontrollieren kann.

In Fall 2 untersuchen wir unterschiedliche ethische Standpunkte bezüglich der Ausschaffung von renitenten Migranten aus der Schweiz. Insbesondere diskutieren wir die verschiedenen Dilemmata, mit denen sich das Schweizerische Rote Kreuz konfrontiert sah, nachdem es die Anfrage erhalten hatte, eine Beobachterrolle beim eigentlichen Ausschaffungsprozess zu übernehmen.

Dieser Fall hebt die Unterschiede zwischen kulturellen, ethischen und anderen Formen der Neutralität hervor und zeigt das Potential der ethischen Neutralität und des ethischen Raumes auf.

Fall 1: Anspruchsvolle Entscheidungen

Herr Kay war Diplom Ingenieur mit 10 Jahren Berufserfahrung und arbeitete seit 6 Jahren sehr zufrieden in einem grossen Unternehmen. Seine berufliche Entwicklung innerhalb der Unternehmenshierarchie verlief wie geplant, bis er bemerkte, dass sein Arbeitgeber sich in den nächsten Jahren mit grösseren Problemen auseinanderzusetzen hatte. Herr Kay stellte auch fest, dass die Geschäftsleitung sich dieser Probleme nicht angemessen annahm, trotz sehr klarer Warnungen von verschiedenen Seiten. Diese Erkenntnis verunsicherte ihn stark und er begann, sich um seine weitere Karriere Sorgen zu machen. Deshalb war er zunehmend offen für Gespräche, wenn er von Personalberatern kontaktiert wurde. Trotz allem empfand Herr Kay sein eigenes Vorgehen als Untreue, nicht nur seinem Arbeitgeber und den Arbeitskollegen, sondern auch seinem Vater gegenüber. Der Vater von Herrn Kay hatte den überwiegenden Teil seines Arbeitslebens bei diesem Arbeitgeber verbracht und war erst vor kurzer Zeit in Rente gegangen.

Herr Kay und seine Frau hatten gemeinsam zwei Kinder, die sie zweisprachig erzogen. Sie hatten ein neues Haus gebaut und Herr Kay hatte viel Zeit darauf verwendet, dieses nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Sein Vater, der selbst nie ein Haus besessen hatte, hatte ihn dabei erheblich unterstützt, sowohl materiell als auch moralisch. Die Ehefrau von Herrn Kay, in einem Nachbarland geboren, fühlte sich im Heimatland Ihres Ehemannes, in dem sie nun lebten, ihrerseits nicht wohl. Sie verstand sich auch nicht besonders gut mit ihren Schwiegereltern. Diese waren sehr grosszügige Menschen, doch sie äusserten vermehrt Vorbehalte gegen ihre Schwiegertochter, die sie als „recht eigennützige Person“ wahrnahmen. Die Ehefrau von Herrn Kay hatte vermehrt – auch ihren Schwiegereltern gegenüber – zu verstehen gegeben, dass sie eigentlich gerne wieder „nach Hause“ gehen würde.

Nach diversen Auswahl-Interviews, die die Personalberater für ihn organisiert hatten, traf Herr Kay die Entscheidung, das Angebot der GGG Ltd. anzunehmen. Dieses Unternehmen hatte eine bedeutende Marktposition in einem verwandten Bereich der Industriebranche, in der er arbeitete. Einer der Gründe, weshalb Herr Kay das Angebot annahm, war die Tatsache, dass sein Arbeitsplatz in der Nähe seines neuen Hauses liegen würde, in dem er mit seiner Familie lebte. Dies würde ihm die Gelegenheit geben, möglichst viel Zeit mit seiner Familie zu verbringen. Ein weiterer Grund war, dass GGG Ltd. im Gegensatz zu seinem früheren Arbeitgeber in den letzten fünf Jahren wesentliche Veränderungen initiiert und in beträchtlichem Umfang in neue Technologien und Märkte investiert hatte.

Die Funktion als ‘Group Production Manager’, die Herr Kay übernahm, war eine wichtige Linienfunktion. Darüber hinaus wurde ihm die konzernweite Verantwortung für „Corporate Compliance“ übertragen, sowie die Betreuung von gezielt ausgewählten Hochschulabsolventen mit überdurchschnittlichem Entwicklungspotential.
Während seiner Studienzeit hatte Herr Kay ernsthaft darüber nachgedacht, Lehrer zu werden, weil es ihm immer gefallen hatte, jungen Leuten dabei zu helfen, sich weiterzuentwickeln. Deshalb war er sehr froh darüber, dass diese Betreuungsfunktion Teil seiner Stellenbeschreibung war.

Im Rahmen der Interviews erfuhr Herr Kay auch, dass GGG Ltd. diese neuen, sorgfältig ausgewählten Spezialisten benötigte, um eine technologische Restrukturierung durchzuführen.

Aus persönlicher Sicht war Herr Kay auch deshalb motiviert, weil diese neue Position ihm attraktive Perspektiven bot, sowohl finanziell als auch für seine weitere berufliche Entwicklung. Bevor er den Arbeitsvertrag unterzeichnete, hatte er mit seiner Frau darüber gesprochen, dass durch die neue Position bei GGG Ltd. für die Familie in den kommenden Jahren stabile finanzielle Verhältnisse gesichert wären; dies würde es der Familie ermöglichen, viele Wochenenden und Ferienaufenthalte im Heimatland der Ehefrau zu verbringen. Frau Kay erwiderte darauf, dass es seine Entscheidung sei und, wenn er von diesem Karriereschritt überzeugt sei, er diesen Weg gehen solle. Frau Kay war jemand, der an die Prinzipien der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung glaubte – nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihren Ehemann und ihre Kinder. Hinsichtlich ihrer eigenen Unzufriedenheit sagte sie ihrem Mann, dass das ihr – und nicht sein – Problem wäre!

In seiner neuen Aufgabe arbeitete Herr Kay die ersten 2 Monate daran, sich mit dem Unternehmen und den verschiedenen Abteilungen vertraut zu machen. Im Laufe der Zeit in der er seine neuen Kollegen kennen lernte, wurde ihm bewusst, dass es für ihn nicht einfach gewesen war, seinen vorherigen Arbeitgeber und seine Kollegen dort zu verlassen. Diese Gefühle – und auch sein Stolz – verstärkten seine Entschlossenheit, all seine Energie dafür einzusetzen, diesen neuen Karriereschritt zu einem Erfolg zu machen.

Eines der wichtigen Themen, die er sich vorgenommen hatte, war, so schnell wie möglich verschiedene Produktionsstätten zu besuchen. Dort wollte er Mitarbeiter treffen und mit ihnen die Basis für eine gute Zusammenarbeit legen. Zwei dieser Produktionsstätten, dies sich in Osteuropa befanden, waren erst kürzlich erworben worden. Als Herr Kay diese Produktionsstandorte besuchte, war er schockiert von dem, was er zu sehen bekam. Er bemerkte schnell, dass

  1. bei beiden Standorten eine substantielle, stark toxische Umweltbelastung vorlag, die auf alte Technologien zurückzuführen war, die in diesen Produktionsstätten immer noch angewandt wurden,
  2. die Arbeitsbedingungen für die Angestellten im Vergleich mit westeuropäischen Standards völlig inakzeptabel waren,
  3. die Kinder und das erweiterte familiäre Umfeld der Angestellten unter schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen litten, insbesondere diejenigen, die in unmittelbarer Nähe der Produktionsstätten lebten und
  4. die Angestellten auf die Arbeit in diesen Fabriken angewiesen waren, weil es in diesen Regionen keine alternativen Arbeitsmöglichkeiten gab.

Als er seine Reise zu den Standorten fortsetzte, stellte er fest, dass zwei weitere Standorte Verluste machten und nur teilweise betriebsfähig waren. Aus zwei Gründen aber musste dort der Betrieb aufrechterhalten werden:

  1. die Schliessung dieser Werke wäre mit sehr hohen Kosten für die Sanierung des kontaminierten Bodens verbunden, verursacht durch die vorhandenen Produktionsprozesse;
  2. die Entlassung der Mitarbeiter würde aufgrund der lokalen Arbeitsgesetzgebung enorme Kosten verursachen.

Nicht zuletzt wurde Herrn Kay deutlich, dass es für die Mehrheit der Mitarbeiter an diesen Produktionsstätten wenig alternative Arbeitsmöglichkeiten gab, u.a. auch deshalb, weil sie niemals irgendetwas anderes gelernt hatten als die Anwendung der erwähnten, veralteten Technologien.

Um den Erfolg seines neuen Karriereschrittes nicht zu gefährden, beschloss Herr Kay nicht zu thematisieren, dass er während seiner eigenen Vorstellungsgespräche nicht über die Missstände an den verschiedenen Standorten informiert worden war.

Als er die dreissig neuen, spezialisierten Hochschulabsolventen an den verschiedenen Standorten kennenlernte, erkannte er nicht nur, wie gut diese Leute ausgebildet waren, sondern auch welche entscheidende Rolle sie für die Pläne des Unternehmens spielten, neue Technologien einzuführen. Er hatte auch das Gefühl, dass diese jungen Leute froh darüber waren, dass er sich nun um sie kümmerte; er hatte gehört, dass sie von seinem Vorgänger nicht ordentlich behandelt worden waren.

Gegen Ende des dritten Monats bei GGG Ltd. wurde Herr Kay vom Chairman des Unternehmens persönlich angesprochen, der ihm die Aufgabe übertrug, eine Krisensituation zu lösen. Die Presse hatte von mutmasslichen Korruptionsvorwürfen im Zusammenhang mit der Vergabe von lukrativen internationalen Verträgen Wind bekommen. Der Chairman beauftragte Herrn Kay, sich unverzüglich dieser Sache anzunehmen, um das Ansehen des Unternehmens zu schützen.

Nachdem der Chairman ihn über die Situation und die Gefahr für die Reputation des Unternehmens informiert hatte, vereinbarte Herr Kay ein Treffen mit seinem direkten Vorgesetzten, der gleichzeitig auch der Leiter dieses Geschäftsbereichs war. Diese Funktion wurde Herrn Kay als mögliche nächste Karriereperspektive vorgestellt, da der gegenwärtigen Stelleninhaber in 4 Jahre in den Ruhestand gehen würde. Dieser, Herr Gold, erklärte Herrn Kay die Situation folgendermassen:

  1. der Verkaufsingenieur, der die fraglichen Verträge erfolgreich abgeschlossen hatte, arbeite schon seit 25 Jahren für die Unternehmung;
  2. diese Verträge hätten einen direkten Einfluss auf die Profitabilität des Unternehmens, die wiederum notwendig sei, Arbeitsplätze zu erhalten und die Investitionen in neue Technologie zu finanzieren.

Er fuhr fort, dass:

  1. sich ohne diese Grossaufträge die Situation des Unternehmens stark verschlechtern würde. Der Markt sei so stark von Preiskämpfen geprägt, dass es kaum realistische Möglichkeiten gäbe, mittelfristig neue Aufträge zu gewinnen;
  2. der fragliche Verkaufsingenieur, Herr Tek, die entscheidende Rolle spiele, um auch diese neuen Verträge zu gewinnen.

Herr Kay erklärte Herrn Gold den Auftrag, den er vom Chairman erhalten hatte, worauf Herr Gold die Umstände in diesem Markt detailliert schilderte. Er hob hervor, dass Herr Kay die wichtige Rolle von Herrn Tek erkennen müsse, die er für die Sicherung der Arbeitsplätze des Unternehmens und die Existenzgrundlage aller Mitarbeiter und ihrer Familien spiele. Dies würde die Produktionsstätten in Osteuropa einschliessen. Zweitens müsse er verstehen, dass Herr Tek der erste Vertrauenskontakt für die Kunden der GGG Ltd. in dieser geographischen Region sei und dass diese Kundenbeziehungen in über 15 Jahren gewachsen seien; Herrn Tek auszuwechseln, hätte offensichtlich sehr negative Konsequenzen für das Unternehmen . Drittens müsse Herr Kay auch wissen, dass die Ehefrau von Herrn Tek vor ein paar Monaten gestorben sei. Auch während dieser privat sehr schwierigen Situation hätte sich Herr Tek stets hundertprozentig loyal für die Belange des Unternehmens eingesetzt. Viertens äusserte Herr Gold auch, dass für den Fall, dass Herr Tek das Unternehmen verlassen müsse, er für ihn eine sechs- bis siebenstellige und für sich selbst eine achtstellige Abfindungssumme einfordern würde. Andernfalls sehe er sich gezwungen, die Beteiligung des Chairman an den Geheimverhandlungen über die fraglichen Verträge publik zu machen.

An diesem Punkt sah sich Herr Kay mit so vielen verschiedenen Dilemmata konfrontiert, dass er sich dazu entschied, eine individuelle externe Beratung zu suchen. Mittels des entsprechenden ethischen Raums, den er dort erhielt, konnte er gewisse nachhaltige Lösungen für seine Situation erarbeiten, wie wir in der Folge aufzeigen werden.

Die Tatsache, dass Herr Kay die Entscheidung über den weiteren Weg als so schwierig empfand, ist ein Hinweis darauf, dass in den Vorstellungen von Herrn Kay mehrere voneinander abweichende ethische Standpunkte gleichzeitig existierten.

Die folgenden ethischen Standpunkte waren die Ursache für die Dilemmata, die er nun überwinden musste:

Gewissenhaftigkeit, Loyalität und Verpflichtung
Konditioniert von den wichtigsten ethischen Werten, die Herr Kay in seiner Erziehung erfahren hatte, ist er ein sehr gewissenhafter und verlässlicher Mensch, der immer bestrebt ist, seinen Verpflichtungen anderen Menschen gegenüber nachzukommen. Wie dies auch bei seinen Eltern der Fall ist, nimmt er sein Eheversprechen sehr ernst. In moralischer und materieller Hinsicht, fühlt er sich seinen Eltern sehr verpflichtet. Auch Freundschaften ausserhalb der Familie sind für ihn Bande, die er ebenfalls sehr ernst nimmt. Sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld gilt: Je älter eine Person ist, desto mehr fühlt sich Herr Kay verpflichtet, den Erwartungen dieser Person zu entsprechen.
Arbeit und Sicherheit
In seiner Rolle als Ehemann und Vater, fühlt sich Herr Kay dafür verantwortlich, das Einkommen der Familie zu erwerben und sicherzustellen. Er beginnt seinen Arbeitstag früh, geht spät nach Hause und versucht dabei – wenn immer möglich – Entwicklungen zu antizipieren sowie seine Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen zu erledigen. Er legt sehr grossen Wert darauf, mögliche Risiken zu bedenken und aufzulösen, bevor sie überhaupt auftreten.
Zuhause arbeitet er stets an Verbesserungen im Haus, pflegt den Garten und erledigt andere anfallende Arbeiten. Demzufolge bleibt ihm kaum Zeit, sich hinzusetzen und sich zu erholen oder Hobbies nachzugehen, die er in seiner Jugend pflegte, auch wenn er immer wieder sagt, er würde diesen gerne nachgehen.
Altruismus, Solidarität und Verantwortung
Herr Kay hat ein ausgeprägtes soziales Gewissen. Er zeigt Mitgefühl für Mitmenschen, denen es weniger gut geht, und versucht, diese so gut wie möglich moralisch und materiell zu unterstützen, z.B. durch Spenden an wohltätige Organisationen.
Er kümmert sich sehr um seine Frau, seine Kinder und seine Eltern und versucht, Leiden zu lindern, wo immer sie auftauchen. Die Unzufriedenheit seiner Frau hat einen starken Einfluss auf seine eigene Zufriedenheit und er fühlt sich selbst mitverantwortlich für ihre Situation und ihre Gefühle. Dass seine Schwiegereltern unter alters-und gesundheitsbedingten Problemen zu leiden haben, macht ihm ebenfalls Sorgen.
Herr Kay ist sich bewusst, dass sein Eigenheim auch die Erfüllung der Träume seines Vaters darstellt. Seine in diesem Zusammenhang gehegten Gefühle von persönlichem Stolz sind eng verbunden mit den Gefühlen von Stolz bei seinem Vater, d.h. er fühlt sich stolz, dass er seinen Vater stolz machen kann.
Herr Kay hat eine stark ausgeprägte Empathie. Der Anblick der Fabrikarbeiter und ihrer Familien, welche aufgrund der veralteten Technologien unter schweren gesundheitlichen Problemen zu leiden hatten, ist für ihn emotional schwer zu verkraften.
Er fühlt sich auch für die jungen Hochschulabsolventen verantwortlich und fühlt mit ihnen, weil sie von seinem Vorgänger schlecht behandelt wurden. Er sieht es als seine Aufgabe an, für ihr Wohlergehen zu sorgen, um sie im Unternehmen zu halten.
Das Wohlergehen der Kinder & die Erziehung
Herr Kay verbringt viel Zeit und macht sich viele Gedanken darum, sicherzustellen, dass es seinen Kindern an nichts mangelt, sie zufrieden sind und optimal ausgebildet werden. Er unterstützt ausserdem aktiv ihr Interesse an ausserschulischen Tätigkeiten wie Musik, Reiten usw. Kein Aufwand ist ihm diesbezüglich zu viel.
Demokratieverständnis & Prinzipien
Herr Kay ist ein Mann von Prinzipien, der sehr stark an die Befolgung und Durchsetzung von Gesetzen, Regeln, Anordnungen und Verträgen glaubt. Es sollte keine Grauzonen geben. Er bekräftigt auch konsequent demokratische Prinzipien und die Rechts- und Chancengleichheit.
Arbeit & Vergnügen
Herr Kay strebt danach, stets professionell aufzutreten. Arbeit und Vergnügen vermischen sich nicht, Privatleben und Arbeit werden strikt getrennt.
Prinzip der Selbstbestimmung und Selbstverantwortlichkeit

Während seiner schulischen und universitären Ausbildung lernte Herr Kay den Wert der Selbstverantwortlichkeit kennen. Gemäss dieser Prämisse sind Probleme auf eigenes Handeln zurückzuführen und müssen somit selbst gelöst werden. Dies ist eine Wertvorstellung, die er am Charakter seiner Frau und ihrer familiären Herkunft sehr bewundert hatte, als er sie zum ersten Mal traf.
Dieser Wert spielt auch in der Dynamik ihrer Beziehung eine bedeutende Rolle. Er will seiner Frau immer beweisen, dass er die Charakterstärke hat, Herr über sein eigenes Schicksal zu sein.

Unter Berücksichtigung all dieser unterschiedlichen Werte und der von Herrn Kay getroffenen Prioritäten, entsteht der Eindruck, dass er seine Aufmerksamkeit zuerst und vor allem den Themen im Unternehmen widmete.

Andere Leute in der gleichen Situation würden das Hauptaugenmerk wohl auf die Situation zuhause werfen – die Unzufriedenheit der Ehefrau eingeschlossen. Was sagt dies über die Prioritäten und ethischen Standpunkte von Herrn Kay aus?

Wie oben erläutert wurde, hat es den Anschein, dass die Wahl zwischen seinem Arbeitsleben und seinem Privatleben für Herrn Kay zu einem Problem geworden ist – ein Problem, das andere Leute unter Umständen von Anfang an vermieden hätten. Man könnte versucht sein, anzunehmen, dass die Tatsache, dass er seine Arbeit und seine Karriere in den Vordergrund rückt, der Grund dafür ist:

  1. dass das Problem überhaupt erst entstand und
  2. dass er sich auf die Probleme im Unternehmen anstelle der Probleme zuhause fokussiert hatte.

Und, in der Tat, später sollte Herrn Kay klar werden, dass er im Unterbewusstsein die Anforderungen, die die Arbeit an ihn stellten, benutzt hat, bestimmte Dilemmata zu unterdrücken, d.h.

  1. einerseits seine Verpflichtung aufrechtzuerhalten, kurz- wie langfristig ein angemessenes Einkommen für die Familie zu verdienen und
    andererseits seiner Zuneigung zu seiner Ehefrau gerecht zu werden und ihr Raum zu schaffen sowie die Möglichkeit zu geben, sich emotional glücklich und kulturell ‚zuhause‘ zu fühlen;
  2. einerseits zu verstehen, dass der Hausbau die Erfüllung eines Wunsches seines Vaters war und dass es für ihn durch die Tatsache, dass er den Arbeitgeber verlassen hatte, bei dem sein Vater die meiste Zeit seines aktiven Arbeitslebens verbracht hatte, umso mehr undenkbar wurde, aus dem neuen Haus auszuziehen, das er und sein Vater zusammen gebaut hatten und
    andererseits zu verstehen, dass die physische Bindung seiner Frau an das neue Haus und die fremde Umgebung zu Spannungen in ihrer Ehe geführt hatten, die ihrerseits auch die Beziehung seiner Frau zu den Schwiegereltern weiter belasteten;
  3. einerseits die unmittelbare Familie zusammenzuhalten, d.h. die Option auszuschliessen, wöchentlich zwischen der Heimat seiner Ehefrau und einer Wohnung in der Nähe seines Arbeitsorts zu pendeln und
    andererseits auf die Bedürfnisse der erweiterten Familie einzugehen und seiner Frau zu ermöglichen, wieder näher bei ihren nicht mehr gesunden Eltern zu sein;
  4. einerseits die Verantwortung gegenüber seinem Arbeitgeber wahrzunehmen, der sich gerade eben für ihn als den bevorzugten Kandidaten entschieden hatte, um eine freie Position zu besetzen und aus diesem Grund andere Kandidaten abgewiesen hatte und
    andererseits sein Ehegelübde und seine Verantwortung seinen Kindern gegenüber zu erfüllen;
  5. einerseits das Rollenmodell eines Managers und
    andererseits das Rollenmodell eines vorbildlichen Ehemannes und Vaters zu erfüllen.

In allen diesen fünf aufgelisteten Punkten hatte Herr Kay immer die zweite Seite des Dilemmas unterdrückt. Durch dieses Verhalten gab es – zumindest an der Oberfläche – kein Dilemma, das hätte aufgelöst werden müssen. Die Unterdrückung von ethischen Dilemmata dieser Natur scheint in der Geschäftswelt stark verbreitet zu sein und kann – wenigstens teilweise auf ein weit verbreitetes Fehlen von interethischer Kompetenz zurückgeführt werden. Nicht selten sind es die Dilemmata, die dem häuslichen Umfeld am nächsten stehen, die am ehesten unterdrückt werden. Einerseits sind viele Leute darauf konditioniert, bestimmte Dinge in ihrem Privatleben für selbstverständlich zu halten und die Konsequenzen ihres Verhaltens erst dann wahrzunehmen, wenn es dafür schon zu spät ist. Andererseits finden es viele Leute einfacher, sich mit Problemen in der Aussenwelt auseinanderzusetzen als mit denjenigen in der eigenen Innenwelt. Dementsprechend nehmen diese Leute die externen oder externalisierten Probleme zuerst an die Hand.

Neben diesen fünf bereits erwähnten, unterdrückten Dilemmata, muss sich Herr Kay noch mit einer Reihe weiterer Dilemmata auseinandersetzen.

Er wird mit den folgenden Handlungsalternativen konfrontiert:

  1. einerseits dem Weg zu gehen, die betrieblichen und rechtlichen Compliance-Regeln einzuhalten und
    andererseits mässigende Faktoren wie den Erhalt von Arbeitsplätzen und den Schutz der Reputation des Chairmans in eine Lösung zu integrieren, die willentlich bestimmte Verstösse decken würde;
  2. einerseits dazu beizutragen, dass diejenigen industriellen Aktivitäten, die für viele Jahre ernsthafte gesundheitliche Probleme für Arbeiter und ihre Familien verursacht hatten, sofort eingestellt werden und
    andererseits dafür zu sorgen, den langfristigen Übergang von einer schmutzigen zu einer sauberen Technologie zu ermöglichen;
  3. einerseits die Loyalität eines Mitarbeiters wertzuschätzen – dies unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände und seines persönlichen Verlustes – und
    andererseits denselben Mitarbeiter für die Verletzung von betriebsinternen Vorschriften haftbar zu machen.

Versteckt im Hintergrund existierte noch ein weiteres Dilemma, nämlich

  1. einerseits den Mut zu haben, die komplexe Situation ganz unterschiedlicher Herausforderungen an seinem neuen Arbeitsplatz anzusprechen und
    andererseits das Risiko einzugehen, einen ansonsten erfolgversprechenden Karriereweg zu gefährden und sich selbst und anderen einzugestehen, dass er keine Gewissheit hätte, fähig zu sein, diese Herausforderungen auf eine befriedigende Weise zu meistern.

Der Leser wird bemerken, dass einer der zentralen Faktoren in dieser Situation Verantwortung ist. Die Tatsache, dass Herr Kay zu einer gewissenhaften Person erzogen wurde, hat einen Einfluss darauf:

  1. welche Themen seiner Meinung nach in seinem Verantwortungsbereich liegen,
  2. wieviel emotionale Intensität und Wichtigkeit er jedem dieser Themen beimisst und
  3. wie er mit diesen Themen umgeht.

Wäre er weniger gewissenhaft und sorgfältig und fühlte er sich in Umgang und Intensität weniger verantwortlich, dann würden viele der obgenannten Dilemmata gar nicht existieren – oder es würde ihnen weniger Bedeutung zukommen. Würde es Herrn Kay helfen, den Grad seiner Gewissenhaftigkeit zu reduzieren? Würde es ihm helfen, die Loyalität seinem Vater, seinem Arbeitgeber oder dem Chairman der Unternehmung gegenüber zu vermindern?

Wenn Menschen sich in einen ethischen Raum begeben, erhalten sie die Möglichkeit, über die Ursprünge ihrer moralischen und ethischen Dilemmata und Konflikte nachzudenken. Wenn eine Person die eigenen relevanten Prämissen und Werte erkennt, so kann sie diese in Frage stellen.

Herr Kay könnte sich z.B. fragen:

  1. Warum bin ich so gewissenhaft?
  2. Warum bin ich so loyal?
  3. Warum bin ich so fürsorglich?

Solche Fragen hinterfragen die Intensität der Werte der betreffenden Person und die Prioritäten, die diese Werte untereinander einnehmen.

Im Falle von Herrn Kay nutzte er den ethischen Raum, um über das Spektrum seiner Werte und Dilemmata zu reflektieren. An diesem Punkt wurde ihm klar, dass er verschiedene Dilemmata unterdrückt hatte, insbesondere diejenigen, die sich auf seine Situation zuhause bezogen (siehe oben Nummern 1 – 5). Er bemerkte dabei auch, dass diese unterdrückten Themen einen grossen Teil seiner emotionalen Energie beanspruchten. Die Dilemmata existierten unausgesprochen in seinem Hinterkopf – ohne dass er sich mit ihnen befasste – und erhöhten dadurch sein Stressniveau weiter. Wenn Leute die Gelegenheit ergreifen, in einem ethischen Raum zu reflektieren, d.h. befreit von den äusseren Zwängen, denen sie sich unterworfen glaubten, gelingt es ihnen oft, ihre Energie und ihr Selbstvertrauen zurückzugewinnen.

Diese benötigen sie, wenn sie die ganze Bandbreite ihrer Sorgen gleichzeitig beherrschen wollen. Im Fall von Herrn Kay geschah dies und er merkte dazu an, dass er es als Erleichterung empfand, alle diese unterdrückten Themen in seinen Entscheidungsprozess einzubeziehen.

Einer der wichtigsten Faktoren, die zu diesem neuen Ansatz führten, war, dass der ethische Raum, den er vorfand, ihm eine neue, entscheidende mentale Option eröffnete. Er stellte fest, dass er bis dahin, einige der Themen auf eine bestimmte Weise verarbeitet hatte, d.h.

  1. Probleme sollten rational und professionell behandelt werden! Themen sollten voneinander getrennt, richtig analysiert und korrekt gelöst werden.“ In anderen Worten hatte er einen externalisierten, binären und normativen Ansatz verwendet.
  2. Yes, I can!” war seine Devise. Das heisst, dass sein Ansatz von der Prämisse der Selbstbestimmung geprägt war, d.h. ein individualistischer und Ergebnis-orientierter Ansatz war.

Interessanterweise war es genau diese Kombination, die ihn dazu geführt hatte, bestimmte eher private Themen zu unterdrücken, d.h. die Möglichkeit des “No, I can’t”. Dies wird weiter unten erklärt.

Als er begann, verschiedene grundsätzliche Prämissen wahrzunehmen, gelang es ihm, diese in einen grösseren Zusammenhang einzuordnen und so neue grundsätzliche Strategien zur Problemlösung zu erkennen. Als Teil dieses Prozesses gelang es ihm auch, kognitiv über das Spektrum und die Intensität seines Altruismus und seiner Solidarität zu reflektieren und dies emotional zu verarbeiten (vgl. oben die Kästchen). Er begann zu verstehen, warum er anscheinend grösseren Wert auf die Fürsorge für andere am Arbeitsplatz Wert gelegt hatte, als auf die Fürsorge für seine Familie.

Wenn man im Falle von Herrn Kay das Thema Verantwortung vertiefter betrachtet, wie er dies auch selbst tat, stellt man eine weitere, sehr grundsätzliche Facette fest – eine, die Wesentliches zu den Dilemmata beigetragen hatte. Einerseits scheinen viele Elemente seines Denkens und Fühlens auf der Prämisse der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung aufgebaut zu sein, wie wir bereits gesehen haben. Diese Prämisse stand jedoch im Konflikt mit der eher kollektivistischen Prämisse der Mitverantwortung. Letztere Prämisse war durch die Erziehung in seiner Familie gewachsen. Herr Kay erkannte dann auch, dass es derselbe kulturelle Konflikt war, der verantwortlich war für die Spannungen zwischen seiner Ehefrau und seinen Eltern und oft auch zwischen ihm und seiner Ehefrau. Dieser kulturelle Unterschied findet sich auch in dem Eindruck wieder, den seine Eltern von ihrer Schwiegertochter hatten, etwa, wenn sie diese als „egoistisch“ bezeichneten. Der Schwiegertochter missfielen wiederum „das fehlende Selbstvertrauen“ und „das ständige Harmoniebedürfnis“ ihrer Schwiegereltern.

Als Herr Kay fortfuhr über seine Situation nachzudenken, war er überrascht, festzustellen, dass ein grosser Teil seiner Dilemmata allein durch diese kulturelle Differenz verursacht wurde.

Während diese Erkenntnis für Herrn Kay emotional erleichternd war, musste er immer noch für sich selbst herausfinden, was er nun tun wollte.

Eine Möglichkeit wäre, dass er von nun an alle seine Themen, die von der Prämisse der Verantwortung geprägt waren, auf der Basis einer Reihe von selbst-deterministischen, atomistischen, normativen und weniger Fürsorge-fokussierten Prämissen abwickeln würde, z.B.:

Alternative A: “It’s my life.

  1. Seine Frau hatte „Ja“ zu ihrer Heirat gesagt. Sie hatte „Ja“ dazu gesagt, mit ihm zusammenzuleben. Sie hatte sich auch Kinder gewünscht. Die Konsequenzen daraus musste sie akzeptieren, oder sie musste etwas ändern. Sie sollte die von ihr geschätzte Devise “Love it, change it or leave it” auf sich selbst anwenden.
  2. Herr Tek hatte sich das Problem der der Bestechung selbst eingebrockt. So sollte auch er die persönlichen Konsequenzen aus seinen Handlungen tragen. Herr Gold war sein Chef und war demzufolge dafür verantwortlich, dass sein Mitarbeiter die Regeln verletzt und so dem Ruf der Unternehmung geschadet hatte. Entsprechend sollte er dafür auch zur Verantwortung gezogen werden.
  3. Die Angestellten in Osteuropa hatten für sich entschieden, in einer solchen Fabrik zu arbeiten und in deren Umgebung zu leben. So war es an ihnen, die Konsequenzen daraus zu akzeptieren oder eine Alternative zu finden.
  4. Seine Mutter und sein Vater hatten ihn ermutigt, in seinem Leben nach Erfolg zu streben. Sein Vater hatte ihm geholfen, das Haus zu bauen. Sollten sich die Dinge in eine andere Richtung entwickeln und daraus resultierend, das Haus verkauft werden, müsste der Vater dies akzeptieren – wie traurig dies für ihn auch immer sein müsste. “That’s life!

Bei seinen Reflexionen realisierte Herr Kay, dass sein Vorgehen nicht frei von Widersprüchen war. Die beschriebene Alternative würde seine inneren Dilemmata auflösen und es ihm ermöglichen, mit Bestimmtheit und Professionalität voran zu gehen, anstatt sich permanentem und unnötigem Stress auszusetzen. Vielmehr war er überzeugt, dass ihm dieses Vorgehen in seinem Arbeitsumfeld Respekt und Anerkennung einbringen würde. Er hatte irgendwo gelesen, dass “Manager nicht geliebt werden müssten, sie sollten respektiert werden.” Er war überzeugt, dass ihn ein solches Vorgehen auch zu größerer Anerkennung durch seine Frau führen würde.

Eine andersartige Alternative wäre es, eine Reihe von kollektivistischen, altruistischen Prämissen situativ (d.h. nicht normativ) anzuwenden:

Alternative B: “Isn’t it about us?” “Geht es nicht um uns?

  1. Er und seine Frau hatten „Ja“ zueinander gesagt und wurden damit Teil einer grösseren Einheit, die auch die jeweiligen Eltern einschloss. Vielleicht sollten sie alle zusammensitzen und die bestehende Situation besprechen, um miteinander einen Konsens zu finden. Dies würde auch die Karriere von Herrn Kay einbeziehen.
  2. Herr Tek hatte im Interesse des Unternehmens und dessen Angestellten gehandelt und dies in einer privaten Krisensituation. Herr Gold hatte ihn in diesen Motiven unterstützt. Vielleicht würde es einen Weg geben, diese mildernden Umstände zu erklären, um innerhalb des Unternehmens die Umgehung der Compliance-Vorschriften zu begründen und die Medien zu beruhigen.
  3. Die Angestellten in Osteuropa hatten ihr Bestes gegeben, um ihre Familien zu unterstützen, und hatten aus Mangel an Alternativen dabei in Kauf genommen, ihre eigene Gesundheit zu ruinieren. GGG Ltd. hatte nun diese Fabriken erworben und könnte vielleicht daran gehen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern, die Verschmutzung zu reduzieren, den Familien der Angestellten bei ihren gesundheitlichen Problemen zu helfen, sukzessive die alte Technologie zu ersetzen und die Mitarbeiter zu schulen. Vielleicht könnte er die Entscheidungsträger des Unternehmens an einem Tisch bringen und sie dabei unterstützen, einen Konsens zu finden.

Es gibt natürlich weitere Alternativen als die zwei hier beschriebenen. Wenn wir aber nur diese beiden analysieren und vergleichen, kommen wir zu folgenden Fragen:

  1. Auf welcher Grundlage könnte sich Herr Kay für die eine oder andere Alternative entscheiden? Eine solche Strategie würde ihrerseits auf der atomistischen Prämisse der Dualität und der Binarität basieren.
  2. Auf welcher Grundlage könnte er das Recht ausüben, andere Parteien in seine Entscheidungen einzubeziehen, d.h. wenn er sich für die Alternative B entscheiden würde?
  3. Auf welcher Grundlage könnte er das Recht ausüben, andere Parteien von seinen Entscheidungen auszuschliessen, d.h. im Falle der Alternative A?

Wenn wir zum Thema des Kapitels 3.5. Wer entscheidet darüber, was ethisch angemessen ist? zurückkehren, wird es deutlich, dass das Umfeld von Herr Kay multi-kulturell und multi-ethisch zusammengesetzt ist. Ausserdem hatte er noch zu wenig Kontakt mit der Geschäftsleitung und den Angestellten der GGG Ltd., um herauszufinden, welche Kultur und ethischen Grundsätze das Unternehmen lebte. Auch wusste er nicht, wie weit dort die interethische Kompetenz ausgebildet war. Welche Richtung auch immer er einschlagen würde, ohne dieses Wissen wäre die Gefahr vorhanden, dass seine Handlungen als unethisch empfunden würden. Andererseits war sich Herr Kay sicher, dass weder seine Eltern noch seine Ehefrau und ihre Eltern über eine ausreichend entwickelte interkulturelle und interethische Kompetenz verfügten, um die Ursachen seiner unterschiedlichen Dilemmata und Spannungen zu verstehen. Welchen Kurs auch immer er einschlagen würde, lief er Gefahr, dass sein Vorgehen von irgendeiner Partei als falsch betrachtet würde.

Herr Kay versuchte, seine Ehefrau an seinen Gedanken teilhaben zu lassen. Aus Gründen, die möglicherweise auch einschlossen, dass ihre eigene innere Anspannung und ihre Unzufriedenheit unumkehrbar waren, verweigerte Frau Kay ihrem Ehemann das Gespräch. Stattdessen packte sie ihre Koffer und verliess ihn und die Kinder. Auf ihre Initiative wurde das Paar in der Folge getrennt und später offiziell geschieden. Herr Kay konnte sich auf die sofortige Unterstützung seiner Eltern für die Betreuung seiner Kinder verlassen, während er seine Arbeit bei GGG Ltd. fortsetzte und für das notwendige Einkommen sorgte. Seine Bemühungen, den Kindern möglichst viel Kontakt zu ihrer Mutter zu vermitteln, hatte wenig positive Auswirkungen; die meisten Besuche endeten im Streit.

Im Unternehmen ging Herr Kay zum Chairman und legte ihm alle offenen Punkte und die zugrundeliegenden Prämissen so klar wie möglich auf den Tisch. Im Gegensatz zu seiner Frau, zeigte der Chairman Bereitschaft, zuzuhören. Nach zahlreichen Diskussionen auf verschiedenen Hierarchiestufen nahm die Geschäftsleitung die Vorgehensweisen an, die unter den Punkten 2 und 3 der Alternative B aufgelistet sind. Die Geschäftsleitung ergriff auch die Gelegenheit, die ethischen Standpunkte des Unternehmens in der Form eines ethischen Kodex zu konkretisieren. Der Auftrag von Herrn Kay bzgl. der Compliance wurde auf eine Verantwortung für die ethischen Grundsätze des Unternehmens ausgeweitet.

Die Autoren und der Leser fragen sich, was passiert wäre, wenn die Reflexionen von Herrn Kay bei GGG Ltd. auf taube Ohren gestossen wären – oder auch was passiert wäre, wenn seine Ehefrau ihm mit offenen Ohren zugehört hätte. Dies werden wir niemals erfahren. Eines aber ist klar: es gelang Herrn Kay, seine ethische Kompetenz zu entwickeln.

Fall Nr. 2: Menschenwürdige Ausschaffung

In der folgenden Fallstudie analysieren wir die Auswirkungen von divergierenden ethischen Standpunkten auf die Strategie einer ganzen Organisation. Wir betrachten die Rolle, die der ethische Raum, die ethische Reflexion und die interethische Kompetenz unter solchen Umständen spielen könnten.

Wir, die Autoren weisen darauf hin, dass die folgenden Ausführungen ausschließlich die Sichtweise der Autoren wiederspiegeln und es in keiner Weise beabsichtigt ist, die Position des Schweizerischen Roten Kreuz zu vertreten.

Im Jahre 2009 ratifizierte die Schweizer Regierung die Übernahme der Richtlinien des Europarates aus dem Jahre 2005 über die Zwangsausschaffung von Migranten in ihre jeweiligen Heimatländer oder in Drittstaaten. Die 20 Richtlinien umfassen auch das Beobachten der Art und Weise, wie die physischen Ausschaffungen durchgeführt werden; dies um sicherzustellen, dass rechtliche und regulatorische Anforderungen erfüllt werden.

Im darauffolgenden Jahr wurde das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) vom Schweizerischen Bundesamt für Migration (BFM) formell angefragt, ob es bereit wäre, über die Modalitäten eines solchen Beobachtungs-Mandats zu diskutieren. Aus den für das SRK bereits erhältlichen Information ging hervor, dass bei einem solchen Mandat eine ausreichende Anzahl von qualifizierten Beobachtern/Innen zur Verfügung gestellt werden müsste, um die „renitenten“ Auszuschaffenden und ihre Polizei-Eskorten zu begleiten. Dies würde jedes Jahr auf 40-50 Spezialflügen mit Ausgangspunkt Schweiz geschehen. Der Begriff „renitent“ wird für Fälle verwendet, bei denen erwartet wird, dass die auszuschaffende Person ihrer Wegschaffung so viel Widerstand entgegenbringt, dass sie nicht auf einem regulären Flug transportiert werden kann. Die Beobachtungsaufgabe würde im Ausschaffungsgefängnis an einem Schweizer Flughafen ihren Anfang nehmen, wo die auszuschaffenden Häftlinge für die Reise vorbereitet werden; und sie würde enden, wenn die Personen den Behörden des jeweiligen Destinationslandes übergeben werden.

Die Thematik und Wichtigkeit der neutralen Beobachtung bei der Ausschaffung erhielt erhöhte Aufmerksamkeit, als im März 2012 ein renitenter Asylbewerber aus Nigeria während seiner Ausschaffung nach Nigeria verstarb. Unter Einhaltung der schweizerischen Vorschriften für Fälle von schwerem physischem Widerstand waren die Füsse und Hände des nigerianischen Asylbewerbers gefesselt worden. Zudem hatte er einen Helm tragen müssen. Obwohl in diesem Fall später als Todesursache ein bereits vorhandenes Herzleiden genannt wurde, begrüssten alle involvierten Parteien – inkl. der Schweizer Polizei – die Möglichkeit, dass bei zukünftigen Ausschaffungen eine unabhängige Beobachtungs-Organisation zur Verfügung stehen würde.

Gestützt auf die vom BFM an das SRK gemachte Anfrage, beschloss das SRK vor einer Entscheidung eine Reihe von internen Diskussionen darüber zu führen, ob es Verhandlungen über eine solche Beobachterrolle aufnehmen wolle oder nicht.

Wie auch in anderen Fällen fand sich das SRK nun mit einem vielschichtigen ethischen Dilemma konfrontiert. Die Wurzeln dieses Dilemmas liegen in einem beträchtlichen Ausmass in der Interaktion zwischen den einzelnen Grundsätzen der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung (in der Folge RK/RH abgekürzt). Diese Grundsätze (in der Folge ‚Grundsätze‘ genannt) lauten wie folgt:

Grundsatz der Menschlichkeit
„Die internationale Rotkreuz – und Rothalbmondbewegung – entstanden aus dem Willen, den Verwundeten der Schlachtfelder unterschiedslos Hilfe zu leisten – bemüht sich in ihrer internationalen und nationalen Tätigkeit, menschliches Leiden überall und jederzeit zu verhüten und zu lindern. Sie ist bestrebt, Leben und Gesundheit zu schützen und der Würde der Menschen Achtung zu verschaffen. Sie fördert gegenseitiges Verständnis, Freundschaft, Zusammenarbeit und einen dauerhaften Frieden unter allen Völkern.“
Grundsatz der Unparteilichkeit
„Die Bewegung unterscheidet nicht nach Nationalität, Rasse, Religion, sozialer Stellung oder politischer Überzeugung. Sie ist bemüht, den Menschen nach dem Mass ihrer Not zu helfen und dabei den dringendsten Fällen den Vorrang zu geben.“
Grundsatz der Freiwilligkeit
„Die Bewegung verkörpert freiwillige und uneigennützige Hilfe ohne Gewinnstreben“
Grundsatz der Neutralität
“Um sich das Vertrauen aller zu bewahren, enthält sich die Bewegung der Teilnahme an Feindseligkeiten wie auch, zu jeder Zeit, an politischen, rassistischen, religiösen oder ideologischen Auseinandersetzungen.“
Grundsatz der Unabhängigkeit
“Die Bewegung ist unabhängig. Wenn auch die Nationalen Gesellschaften den Behörden bei ihrer humanitären Tätigkeit als Hilfsgesellschaften zur Seite stehen und den jeweiligen Landesgesetzen unterworfen sind, müssen sie dennoch eine Eigenständigkeit bewahren, die ihnen gestattet, jederzeit nach den Grundsätzen der Bewegung zu handeln.“
Grundsatz der Universalität
“Die Bewegung ist weltumfassend. In ihr haben alle Nationalen Gesellschaften gleiche Rechte und die Pflicht, einander zu helfen.”
Grundsatz der Einheit
“In jedem Land kann es nur eine einzige Nationale Rotkreuz- oder Rothalbmondgesellschaft geben. Sie muss allen offen stehen und ihre humanitäre Tätigkeit im ganzen Gebiet ausüben.”

Die Tatsache, dass nicht nur diese 7 Grundsätze, sondern auch die tägliche praktische Arbeit von Vertretern des Roten Kreuzes von ethischen Herausforderungen und Dilemmata begleitet wird, ist gut dokumentiert – auch vom IKRK. Der vorliegende Fall über die Ausschaffung von renitenten Migranten hat vieles gemeinsam mit anderen Herausforderungen, denen sich die RK/RH und ihre Mitglieder-Organisationen seit der Gründung im Jahre 1863 zu stellen hatten.

Wir werden nun verschiedene Thesen näher prüfen, die beim Versuch des SRK angewendet werden könnten, um die ethischen Herausforderungen und Dilemmata im Falle von Ausschaffungen aufzulösen.

Vor Beginn der Diskussion halten die Autoren fest, dass die Schweizer Medien in verschiedenen Artikeln angedeutet haben, dass ein hoher Prozentsatz der fraglichen Migranten unter psychischen Problemen leidet und in Drogengeschäfte und andere kriminelle Aktivitäten verwickelt sind. Wir sind hingegen nicht in der Lage, zu beurteilen, inwieweit diese Meldungen auf empirischen Fakten beruhen, noch haben wir Kenntnis davon, in welchem Ausmass solche Erwägungen den Entscheidungsprozess des SRK beeinflusst haben oder nicht. Deshalb werden diese Faktoren in diesen Ausführungen nicht berücksichtigt.

Wie erwähnt, wurde das SRK von der Schweizer Regierung angefragt, ob es gewillt wäre, in Verhandlungen über Modalitäten einzutreten, unter denen das SRK sich in der Lage sähe, bei der Beobachtung der Rückschaffung von renitenten Migranten mitzuwirken. Eine solche Anfrage erfordert offensichtlich zuerst die Beantwortung einer binären Frage:

  • Sollte das SRK diese Anfrage überhaupt prüfen oder nicht?

Obwohl die Ausschaffung als solche als unmenschlicher Akt angesehen werden kann, könnte es als bewusste Verletzung des Grundsatzes der Menschlichkeit angesehen werden, wenn das SRK von Anbeginn das Gesuch ablehnen würde. Dies aus den folgenden Gründen:

  1. Das BFM bat um die Hilfe für die Betreuung von gefährdeten Migranten:
    1. Mit der Entscheidung der Schweizer Regierung, die Richtlinien der EU über die Zwangsausschaffung zu übernehmen, hat sie sich, wie auch das SRK, öffentlich dazu verpflichtet, die allgemeine Erklärung der Menschenrechte in einer für alle Betroffenen besonders anspruchsvollen Situation zu befolgen.
    2. Das BFM hat ganz bewusst und absichtlich eine renommierte, qualifizierte Unterstützung vom SRK erbeten, auch wegen seines offiziellen Status als „eine Helferin (auxiliary) für humanitäre Dienstleistungen der Schweizer Regierung“.
  2. Zwangsausschaffungen sind per definitionem Situationen, in denen Individuen Handlungen gegen ihren eigenen Willen unterworfen werden. Wenn das Verhalten eines Betroffenen als „renitent“ eingestuft werden muss, kann dies als offenkundige Manifestation menschlichen Leidens ausgelegt werden. Das SRK ist verpflichtet, menschliches Leiden proaktiv zu mildern.
  3. Zum Zeitpunkt der Anfrage an das SRK waren sich das BFM und das SRK bewusst, dass es bei einer früheren, nicht beobachteten Ausschaffung einer renitenten Person zu Gewaltanwendung kam und der Migrant zu Tode kam.

Im Gegensatz zu diesen potentiellen Verletzungen des Grundsatzes der Menschlichkeit würde der Grundsatz der Unabhängigkeit das SRK andererseits legitimieren, die Anfrage abzulehnen. Wie alle Nationalen Organisationen des RK/RH muss das SRK die eigene Autonomie bewahren – und noch viel wichtiger, auch von anderen als autonom angesehen werden – d.h. unabhängig von der jeweiligen Regierung und deren Politik. Demzufolge sollte sich das SRK nicht verpflichtet fühlen, die Schweizer Regierung zu unterstützen, wenn dadurch das SRK daran gehindert würde, gemäss den Grundsätzen des RK/RH zu handeln.

Die Tatsache, dass das Luxemburgische Rote Kreuz (LRK) diese Ausschaffungs-Beobachtung für seine Regierung bereits über mehrere Jahre durchgeführt hatte, würde für das SRK an und für sich keinen bindenden Präzedenz-Fall schaffen. Andererseits könnte

es aber Einfluss auf die Argumentation des SRK gegenüber dem BFM haben. Es stellte sich heraus, dass das SRK die Entscheidung traf, mit dem LRK Kontakt aufzunehmen und anzufragen, ob die Zuständigen ein paar spezifische Fragen zur Ausschaffungs-Beobachtung beantworten könnten. In der Stellungnahme des LRK wurde festgehalten, dass die Mitwirkung bei der Ausschaffung keinen Konflikt mit den Grundsätzen des RK/RH geschaffen hatte. Neutralität und Unabhängigkeit konnten in den Augen der nationalen Behörde und der ausgeschafften Personen aufrechterhalten werden.

Wenn das SRK die Einladung des BFM von vornherein ablehnen und als Teilbegründung argumentieren würde, dass es andere schweizerische Institutionen als das SRK gibt, die solche begleitenden Ausschaffungsmassnahmen wahrnehmen könnten, dann könnte diese Argumentation auf verschiedene Weise ausgelegt werden, z.B.:

  1. Vielleicht würde das SRK implizit anerkennen, dass tatsächlich ein humanitäres Bedürfnis vorliegt. Das SRK würde es aber vorziehen, sowohl das Reputationsrisiko als auch die Belastung des zusätzlichen Personalbedarfs von anderen Organisationen tragen zu lassen.
  2. Vielleicht würde es das SRK vorziehen, die eigenen Ressourcen für „bessere“ humanitäre Zwecke einzusetzen als die Beobachtung der Ausschaffung von renitenten Migranten.

Aus der obigen Diskussion folgt, dass es – falls das SRK die Einladung ablehnen würde – eine unmissverständliche Erklärung abgeben müsste, um die Gefahr unerwünschter Interpretationen in den Medien möglichst gering zu halten. Ein unqualifiziertes Ja oder Nein auf die ursprüngliche Frage wäre unklug. Für welche Argumente sich das SRK auch immer entscheiden würde, müsste es diese auf eine ausreichend glaubwürdige Art und Weise vorbringen, um so die Medien, die Öffentlichkeit, das BFM und seine Mitarbeitenden zu überzeugen. Das Verständnis der RK/RH in Bezug auf die Grundsätze der Neutralität, Unparteilichkeit und Menschlichkeit macht es für das SRK sehr schwer, glaubwürdige und überzeugende Argumente dafür zu liefern, warum man in Fällen wie der Ausschaffung keine Unterstützung anbieten möchte. In der Folge möchten wir dies unter verschiedenen Gesichtspunkten erläutern.

Am Anfang der folgenden Diskussion muss man sich bewusst sein, dass

  • obwohl der Akt der Ausschaffung von renitenten Personen sowie die damit einhergehenden Szenen von Gewalt auf einem Flughafen dazu führt, dass mehrere rechtliche und humanitäre Themen ins Scheinwerferlicht der öffentlichen Aufmerksamkeit rücken,
  • der ganze Prozess bis hin zum Akt der physischen Ausschaffung in sich genau dieselben Herausforderungen trägt, die durch die oben erwähnten drei Grundsätze (Neutralität, Unparteilichkeit und Menschlichkeit) entstehen.

Die Arbeit des SRK beginnt oft kurz nach der Ankunft der Migranten in der Schweiz und setzt sich bis zu dem Tag fort, wenn einige von ihnen gezwungen werden, das Land zu verlassen. Diese Arbeit beinhaltet u.a. den Besuch von Migranten, die inhaftiert wurden. Die Zielsetzung solcher Besuche ist es, die Inhaftierten bzgl. ihrer Rückkehr individuell zu beraten und zu unterstützen. Während es einfach erscheint, zu erkennen, wie der Grundsatz der Menschlichkeit durch solche Besuche erfüllt werden kann, stellt die praktische Anwendung der Grundsätze der Unparteilichkeit und Neutralität eine grössere Herausforderung dar. Gemäss Aussagen von Anwälten, haben viele Migranten kein Vertrauen in die angebotene Rechtsberatung. Die betroffenen Personen geben offenbar ihren Anwälten gegenüber nichts zu, auch wenn diese ihnen unmissverständliche Videoaufnahmen von kriminellen Aktivitäten, die in der Schweiz verübt wurden, vorlegen können. Dieses fehlende Vertrauen sei verständlich, wurde uns mitgeteilt, weil sich die Migranten sehr wohl bewusst sind, dass es der Schweizer Staat ist, der ihnen diese juristische Beratung zur Verfügung stellt und diese auch bezahlt. Sie sind deshalb der Auffassung, dass die Schweizer Behörden mit hoher Wahrscheinlichkeit – unter dem Vorwand des juristischen Beistandes – einen Anwalt mit der eigentlichen Zielsetzung geschickt haben, eine Schuldanerkennung zu erlangen, um so den Standpunkt des Staates für eine Ausschaffung zu stärken. Es ist deshalb nicht überraschend, dass einige Migranten „renitent“ werden und auch als solche qualifiziert werden. Unter diesen Umständen des Misstrauens gegenüber jedem, der von den Schweizer Behörden geschickt wird, versucht das SRK, seine eigene humanitäre Unterstützung, Unparteilichkeit und Neutralität anzubieten, Wie in Sektion 4.1. dargelegt wurde: Wenn eine Person nicht als neutral angesehen wird, ist sie es auch nicht. Wenn die Vertreter des SRK bereits während der Inhaftierung als Vertreter der offiziellen Schweizer Verwaltung wahrgenommen und demzufolge als nicht neutral empfunden werden, weshalb sollten die Migranten plötzlich während der Ausschaffungsphase ihre Meinung ändern? Mit anderen Worten wird das SRK bereits mit einem beträchtlichen Glaubwürdigkeitsproblem konfrontiert, sobald es versucht, die drei Grundsätze der Menschlichkeit, Neutralität und Unparteilichkeit gleichzeitig anzuwenden.

Im Idealfall sollte das SRK in der Lage sein, Fragen bzgl. seiner eigenen Neutralität überzeugend zu beantworten, wie z.B.

  1. Macht sich das SRK der Inhaftierung von Migranten parteilich bzw. mitverantwortlich, wenn es diese in Schweizer Gefängnissen besucht?
  2. Indem das SRK Migranten berät, wie sie in Würde in ihre Heimatländer zurückkehren können, hilft es faktisch den Schweizer Behörden, ihre Politik so durchzusetzen, dass Widerstand und negative öffentliche Aufmerksamkeit minimiert werden?

Solche Fragen bedürfen zweifelsohne klarer und überzeugender Antworten. Dieses Ziel zu erreichen, hängt davon ab, inwieweit die RK/RH eine Reihe von grundsätzlicheren Fragen, die in den Medien und auch in eigenen Publikationen gut belegt sind, überzeugend beantworten kann. Diese Fragen betreffen die politische, ideologische und materielle Neutralität der RK/RH:

  1. Wie können die Nationalen Gesellschaften der RK/RH neutral und unparteiisch sein, wenn sie vorwiegend von politischen Systemen, Institutionen und den Einwohnern des jeweiligen Landes finanziert werden?
  2. Hat die RK/RH „zwei verschiedene moralische Gesichter, das eine für die Öffentlichkeit und das andere hinter verschlossenen Türen“? vgl. Ignatieff in Hard Choices: Moral Dilemmas in Humanitarian Intervention. 11
  3. Ist die Arbeit der RK/RH in ihrer Ausrichtung “gegenseitiges Verständnis, Freundschaft und dauerhaften Frieden unter allen Völkern zu fördern“ nicht letztlich ein Ausdruck westlicher Ideologie?
  4. Akzeptiert die RK/RH implizit Krieg und Gewaltanwendung durch die humanitäre Hilfe an Kriegsopfer? Oder: Hat die Institution eine heimliche Mission, „die nichts weniger als Kriegssabotage beinhaltet?“ vgl. Berry, ‘War and the Red Cross’. 12

Wie Larry Minear argumentiert, ist der Grundsatz der Neutralität nicht nur ein auffälliger, sondern auch ein kontroverser Grundsatz. Diesen Grundsatz beschreibt er als “surely the least self-evident and most problematic of the Movement’s seven cardinal tenets” (sicherlich der am wenigsten selbstverständliche und der problematischste der sieben Grundsätze). Er hält auch fest, dass “the tensions between theory and practice experienced by the ICRC, especially with respect to neutrality, warrant reflection” (die Spannungen zwischen Theorie und Praxis, die die RK/RH insbesondere in Bezug auf Neutralität erfährt, der Reflektion bedürfen) – vgl. Minear, ‘The Theory and Practice of Neutrality’. 13

Vielleicht entsteht das Bedürfnis nach Reflektion nicht nur aufgrund:

  1. der „Spannungen zwischen Theorie und Praxis“ bzw.
  2. der Frage „ob die RK/RH in einem hochpolitisierten Umfeld überhaupt unpolitisch bleiben kann“

sondern auch aufgrund

  1. der Koexistenz von divergierenden ethischen Standpunkten inner- und ausserhalb der Organisation und
  2. des Bekenntnisses seitens der RK/RH zu einem bestimmten ideologischen Standpunkt, was die Organisation de facto disqualifiziert, sich in einer multiethischen Welt neutral zu verhalten.

Auf diesen letzten Punkt werden wir jetzt näher eingehen.

Der Wortlaut des RK/RH- Grundsatzes der Neutralität lautet folgendermassen:

“Um sich das Vertrauen aller zu bewahren, enthält sich die Bewegung der Parteinahme in Feindseligkeiten wie auch, zu jeder Zeit, der Teilnahme an politischen, rassischen, religiösen und ideologischen Auseinandersetzungen.“

Diese Formulierung wirft eine interessante Frage auf:

  • Warum fehlen die Begriffe kulturell und ethisch in diesem Katalog von Auseinandersetzungen, die von den Grundsätzen abgedeckt werden sollen?

Wir stellen auch fest, dass interessanterweise dieselben Begriffe auch in der Definition des Grundsatzes der Unparteilichkeit fehlen. Im Kontext dieses Artikels und der hier angebotenen Definitionen ziehen wir den Schluss, dass infolge ihres Bekenntnisses zu den Prämissen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts die RK/RH gezwungen wird, ihr Verständnis der Neutralität so zu beschränken, dass dieses mit kulturellen Prämissen wie Individualismus, Rationalität, dem Prinzip der Gleichheit innerhalb der Gesellschaft und dem Universalismus kompatibel ist. Mit anderen Worten:

  1. Die RK/RH hat Partei ergriffen in Bezug auf Kultur und ethische Grundsätze.
  2. Sie befürwortet eine bestimmte ideologische Positionierung, die unvermeidlich mit bestimmten politischen Grundsätzen und Ansichten übereinstimmt und die sie von anderen distanziert.
  3. Sie wird durch die eigenen Grundsätze gezwungen, von der kulturellen und ethischen Neutralität Abstand zu nehmen (siehe oben unter 4.1.).

Dadurch widerspricht aber die RK/RH dem eigenen Grundsatz der Neutralität. Die Bewegung wird Partei in einem ideologischen Konflikt. So ist es nicht überraschend, dass die RK/RH, das IKRK, das SRK und andere Nationale Gesellschaften sich wiederholt mit ethischen Dilemmata und Verdächtigungen bzgl. ihrer wahren Neutralität konfrontiert sehen.

In Anbetracht der verschiedenen Glaubwürdigkeits-Herausforderungen, denen das SRK ausgesetzt ist – sowohl allgemein als auch bezüglich der spezifischen Thematik der Ausschaffung – werden wir nun die verschiedenen Argumente untersuchen, die das SRK aufgeführt hat, als es im September 2010 vom Gesuch des BFM Abstand nahm. Es wurden vom Pressesprecher des SRK vor den Medien die folgenden Gründe vorgebracht:

  1. dass das SRK in die RK/RH eingebettet ist und diese die Beteiligung von Nationalen Gesellschaften bei der Ausschaffung von Migranten nicht unterstützt;
  2. eine Mitwirkung seitens des SRK in gewissen Situationen als ein Widerspruch zu den RK/RH-Grundsätzen der Neutralität und Unabhängigkeit angesehen werden könnte. So könnte ein Sicherheitsrisiko geschaffen werden, insbesondere für das IKRK;
  3. dass das SRK keine Kontrolle darüber hat, was mit diesen Migranten passiert, wenn sie in ihre Herkunftsländer zurückgeschafft werden.

In diesem Zusammenhang ist es interessant festzustellen, dass die Neutralität, wie sie die RK/RH versteht, nicht an die ethische Neutralität heranreicht.

Ein bemerkenswerter Punkt in der Argumentation des SRK ist das Fehlen einer öffentlichen Erwähnung von möglichen Situationen, in denen SRK-Beobachter

  1. Zeugen von Handlungen der Schweizer Polizei werden könnten, die als unmenschlich eingestuft werden könnten und
  2. sie solche Handlungen bezeugen müssten.

Die Tatsache, dass dieser Aspekt der Vermeidung von Situationen, in denen das SRK als Partei ergreifend wahrgenommen werden könnte, nicht öffentlich erwähnt wird – obwohl solche Situationen durchaus auftreten könnten – hinterlässt weitere Zweifel über die wahre Neutralität und Unparteilichkeit des SRK.

Die Begründung der RK/RH, die in der Stellungnahme des SRK erwähnt wurde, sah folgendermassen aus:

  1. Unabhängig davon, welches die Ansichten und Ziele der Behörden sind, widerspricht es der Politik und modus operandi der RK/RH, jemanden zu repatriieren, der nicht zurückkehren möchte – Jede Person, die repatriiert werden soll, muss individuell befragt werden, um sicherzustellen, dass die Repatriierung im Einverständnis mit deren Wünschen erfolgt.
  2. Wenn eine Nationale Gesellschaft Beobachter für die Ausschaffung zur Verfügung stellen würde, gäbe es für diese keine befriedigende Möglichkeit, sich mit den Auszuschaffenden zu unterhalten oder jedes einzelne Ereignis zu beobachten. So wäre es für die Beobachter nicht möglich, jeden Fall von schlechter Behandlung – insbesondere psychischer Traumata wie Erniedrigung, Bedrohung und weiteren Formen von Druckausübung – zu entdecken.
  3. Die jeweiligen nationalen Behörden würden hingegen davon profitieren, wenn Vertreter der RK/RH anwesend wären, aber ohne dass diese Anwesenheit in einer umfassenden und zufriedenstellenden Beobachtung resultieren würde. Obwohl die Behörden diese Dienstleistungen von anderen Quellen beziehen könnten, würden sie die Nationalen Gesellschaften beteiligen wollen, um vom positiven Image der RK/RH zu profitieren. Bestehende Vorstellungen über die Ausschaffungen würden gemildert und eine kontroverse Handlung würde in diesem Licht menschlicher erscheinen.
  4. Wenn Mandate an Nationale Gesellschaften herangetragen werden, bei denen sie eine Rolle als Vermittler von humanitären Dienstleistungen für ihre jeweiligen Regierungen übernehmen, dann müssen sie solche Mandate ablehnen, wenn durch deren Ausführung Konflikte mit den Grundsätzen von RK/RH entstehen könnten.
  5. Wenn die eine nationale Organisation ein solches Mandat annehmen würde, könnten andere unter den Druck ihrer Regierungen geraten, das Gleiche zu tun. Dies könnte zu Spaltungen innerhalb der RK/RH-Organisation führen.
  6. Die humanitäre Dienstleistung, die vom RK/RH im Zusammenhang mit der Begleitung von Ausschaffungen durchgeführt wird, erscheint dürftig im Vergleich mit den damit einhergehenden Problemen und Risiken.
  7. Die Behörden verfügen bereits über Mittel, um sicherzustellen, dass die Ausschaffungen gesetzeskonform und menschlich durchgeführt werden.

Die Argumentation der RK/RH lässt eine sehr klare Position bezüglich der Repatriierung erkennen. U.a. wird implizit die Möglichkeit einer Unvereinbarkeit zwischen dem ethischen Standpunkt der RK/RH und demjenigen bestimmter nationaler Behörden und Nationalen Gesellschaften anerkannt – dies umso mehr, weil die RK/RH an alle Nationalen Gesellschaften appelliert, einen einheitlichen Standpunkt zu vertreten.

Was diese Argumente nicht ansprechen, ist die Möglichkeit, dass die ethische Position der RK/RH in bestimmten Fällen von den ethischen Prämissen und der kulturellen Prägung einzelner Migranten abweichen könnte. Da die RK/RH einen absoluten Standpunkt bzgl. der Repatriierung eingenommen hat, gibt es keine Alternative, als dem eigenen ethischen Standpunkt treu zu bleiben. Daraus folgt, dass die Bewegung sich von jeglicher unmenschlichen Behandlung, die während der Ausschaffung auftreten könnte, distanzieren muss.

An diesem Punkt gibt es ein tatsächliches Ereignis zu berücksichtigen, an dem die Schweizer Migrationsbehörden beteiligt waren und das einmal mehr der Angelegenheit der Ausschaffung von renitenten Migranten mediale Aufmerksamkeit verschaffte. Am 7. Juli 2011, neun Monate nachdem sich das SRK entschieden hatte, bei der Beobachtung von Ausschaffungen nicht mitzuwirken, wurden zwanzig Auszuschaffende zum Flughafen Zürich transportiert, um mit einem Spezialflug nach Nigeria geflogen zu werden. Ein Fernsehteam einer Schweizer Nachrichtensendung nahm eine Szene auf, worin einer der Migranten beim Besteigen des Flugzeugs versuchte, Widerstand zu leisten. Der Film wurde noch am gleichen Tag im Schweizer Fernsehen gesendet und zeigte, wie der Auszuschaffende von 8 Polizeileuten die Flugzeugtreppe hinaufgetragen wurde. Während er sich wehrte, konnte man sehen, wie einer der Polizisten auf ihn einschlug und ihn ein anderer mehrmals mit einem Knüppel traktierte. Aus verschiedenen Gründen – u.a. auch weil das SRK eine Beobachterrolle abgelehnt hatte – war bei diesem Ereignis kein unabhängiges Organ anwesend, um die Vorkommnisse zu beobachten bzw. einzuschreiten. Auch wenn das Schweizerische Recht in einem solchen Fall Gewaltanwendung durch die Polizei zulässt, war die Reaktion der Öffentlichkeit auf diesen Vorfall so stark, dass eine unabhängige Untersuchung verlangt wurde.

Die Bedeutung dieser weiteren Entwicklung liegt auf der Hand:

  1. Einige würden argumentieren, dass einmal mehr Migranten in den Händen der Schweizer Behörden, d.h. auf dem eigenen Territorium des SRK, leiden mussten.
  2. Das SRK hatte es abgelehnt, über die Modalitäten einer möglichen Mitwirkung bei der Beobachtung der Ausschaffungen zu verhandeln. Es könnte deshalb argumentiert werden, dass
    1. das SRK faktisch zwei Parteien, den Schweizer Behörden und den Auszuschaffenden, die Möglichkeit verweigert hatte, seine umfangreiche Expertise in solchen Angelegenheiten in Anspruch zu nehmen;
    2. das SRK die Schweizer Behörden alleine gelassen hatte bei der Bewältigung der Herausforderung, wie sie ihren Verpflichtungen bezüglich der Einhaltung der EU-Richtlinien und der eigenen Gesetzgebung nachkommen sollten;
    3. das SRK die Auszuschaffenden dabei allein gelassen hatte, für sich selbst zu sorgen und dies ohne eine Beobachtung seitens des SRK.
  3. Am 7. Juli 2011 stand kein unabhängiges Organ zur Verfügung, um eine unabhängige Stellungnahme entweder im Interesse aller beteiligten Parteien oder im Interesse des Grundsatzes der Menschlichkeit abgeben zu können.

Wenn wir nun zum Hauptthema dieses Artikels zurückkommen, steht die Frage im Raum, inwieweit ein ethischer Raum und eine höher entwickelte interethische Kompetenz den Ausgang der Ereignisse hätte verhindern können und/oder einen Beitrag zu den Situationen hätte leisten können, mit denen die verschiedenen Parteien konfrontiert sind.

Wenn die Migranten, die RK/RH, das SRK und die Schweizer Behörden bereits über eine ausreichend hohe interethische Kompetenz verfügen würden, dann würden sie die Existenz und die damit einhergehenden Konsequenzen einer multi-ethischen Aussenwelt und vielleicht auch einer multi-ethischen Innenwelt erkennen. Da der Rationalismus ein Element des uns bekannten kulturellen und ethischen Spektrums darstellt, hätten diese Parteien die Möglichkeit, rational über die Angemessenheit von denjenigen Prämissen und Motiven zu reflektieren,

  1. die ihrer jeweiligen ethischen Identität und ihren Gedankengängen zugrunde liegen und
  2. die sich in ihren Vorstellungen, wie man vorherrschende divergierende ethische Standpunkte überwinden sollte, wiederspiegeln würden.

Sie könnten auch die Möglichkeit prüfen,

  1. dass es Unterschiede nicht nur in Bezug auf die Ausprägung der interethischen Kompetenz, sondern auch in Bezug auf die Ausprägung und Stellenwert des Rationalismus bei anderen beteiligten Parteien geben könnte.

Ein ethischer Raum verschafft die Möglichkeit, nicht nur der Prämisse des Rationalismus nachzugehen, indem man kognitiv reflektiert, sondern er ermöglicht auch, kulturelle Umfelder zu betreten, die von einigen Menschen als Fideismus, Empirismus und reiner Emotionalismus bezeichnet werden könnten. So würden die beteiligten Personen ihre kulturelle und ethische Empathie weiterentwickeln (siehe Sektion 4.5).

Der ethische Raum ist per definitionem in ethischer Hinsicht nicht ausschliessend. Demzufolge kann der Prozess des Betretens des ethischen Raums möglicherweise eine integrierende Wirkung haben. Mit anderen Worten: durch die Anerkennung der Ko-Existenz von anderen ethischen Standpunkten können diejenigen, die durch Rationalismus, Fideismus, Empirismus oder Emotionalismus kulturell geprägt worden sind, gegenseitig Zugang zu ihren jeweiligen Weltbildern finden. Wenn dieser gegenseitige Zugang in einem Umfeld von ethischer Neutralität und mit adäquater Tiefe – d.h. nicht nur kognitiv bzw. theoretisch – ermöglicht wird, konzentrieren sich die rationalen und emotionalen Prozesse, die die Parteien durchlaufen, auf ihre eigene Denkhaltung und ihre Werte. Im Falle von Emotionalismus könnte sich ihre Emotionalität zuerst auf sie selbst richten, wenn sie es zulassen, ihre eigenen ethischen Standpunkte im Lichte einer Vielfalt von möglichen ethischen Alternativen zu hinterfragen. Diesbezüglich gibt es eine interessante Schlussfolgerung in einem Papier, das vom Kommissariat der Deutschen Bischöfe veröffentlicht wurde. In diesem Papier werden die verschiedenen, in letzter Zeit in Deutschland durchgeführten Initiativen, die die Ausschaffung von Migranten betreffen, beschrieben. Die Schlussfolgerung lautet wie folgt:

„Die bisher geleistete Arbeit hat sich bewährt und sollte im Rahmen der Rückführungsrichtlinie im Bundesgebiet flächendeckend etabliert werden. Es hat eine Enttabuisierung einer emotional besetzten Thematik begonnen, die fortgeführt und weiterentwickelt werden sollte. Dass dieser Diskurs allen Beteiligten mit Blick auf ihre Diskussions- und Konfliktfähigkeit einiges abverlangt, ist unbestritten.“ 14

Diese Formulierung lässt den Schluss zu, dass die Autoren Zeugen waren von Vorgängen, die die Betroffenen als emotional herausfordernd empfanden, als sie das Thema der Ausschaffung aufbrachten und diskutierten.

Es ist bekannt, dass – ohne einen entsprechenden ethischen Raum oder ausreichende interethische Kompetenz – ethische divergierende Parteien allgemein dazu neigen,

  1. ihre Emotionalität aufeinander zu richten,
  2. verschiedene Formen offener oder versteckter ethischer Vorwürfe, Verteidigungen und Selbst-Rechtfertigungen anzuwenden bzw.
  3. auf eine Art und Weise zu argumentieren, die vor allem durch die vorherrschenden ethischen Divergenzen bestimmt und eingeschränkt wird.

Eine der möglichen Vorteile einer ethischen Introspektion in einem ethisch neutralen Umfeld liegt in der Tatsache, dass Ängsten, die in anderen Situationen aufkommen könnten, die Grundlage entzogen wird. Im ethisch neutralen Raum ist es ausgeschlossen, dass man eine negative Haltung gegenüber der eigenen bisherigen ethischen Identität entwickeln könnte; man ist auch nicht gezwungen, diese aufzugeben; folglich muss man keine Angst bezüglich der eigenen bisherigen ethischen Identität haben. Im ethisch neutralen Raum muss man auch nicht befürchten, dass man in einen Prozess der kulturellen oder ethischen Relativierung geraten könnte, d.h. in einen Zustand, wo „alles geht“ – vgl. Robinson “The Value of Neutralityop. cit.

Ethischen Reflektion in einem Kontext der ethischen Neutralität ermöglicht es auch, auf Themen wie Verantwortung und moralisches Gewissen, die in vielen Kulturen sehr zentrale ethische Themen sind, einzugehen, ohne Vorwürfe von Dritten oder selbsterzeugte Schuldempfindungen befürchten zu müssen. Der ethische Raum ermöglicht es, die Erkenntnis zu verinnerlichen, dass die Definition und Bedeutung von Verantwortung und moralischem Gewissen sehr stark von einem ethischen Standpunkt zum anderen und von einer Kultur zur anderen variieren kann.

Wenn man bei der Thematik der Ausschaffung die Prämisse der Eigenverantwortung anwendet, erscheinen nicht nur die Schweizer Behörden, sondern auch die Migranten in einer schwierigen Situation‚ in die ‚sie sich selbst manövriert haben‘. Mit anderen Worten trägt jede Partei die eigene Verantwortung für ihre missliche Lage und für die daraus resultierenden Konsequenzen. Auf der Basis dieses Verständnisses von Verantwortung könnte man argumentieren, dass

  1. die Schweiz notwendigerweise die Konsequenzen alleine daraus tragen muss, wenn sie
    1. mit ihrem hohen Lebensstandard nicht nur die vom Glück Begünstigten, sondern auch die vom Glück weniger Begünstigten dieser Welt anzieht bzw.
    2. einigen oder allen Migranten die Erlaubnis gibt, im Land zu bleiben.
  2. diejenigen Migranten, die ‚ihr Glück versuchen‘, in dem sie Asyl in der Schweiz suchen, notwendigerweise die persönlichen Konsequenzen tragen müssen, wenn ihnen dies gelingt oder wenn sie scheitern. Falls sie scheitern sollten, wären sie nicht ‚Opfer der Schweizer Ausschaffung‘, sondern ‚Initianten ihrer eigenen Repatriierung‘.

Wenn andererseits die Prämissen der Autokratie oder Oligarchie angewendet würden, unter denen das Recht, Entscheidungen zu fällen, unbestritten bei der obersten Person oder dem obersten Organ an der Spitze der hierarchischen Ordnung liegt, dann ist das (auf Demokratie basierende) Konzept der Verantwortung irrelevant. Die Mitglieder einer solchen Kultur sind abhängig von den Entscheidungen der letztinstanzlichen Behörde. Gestützt auf diese Prämisse

  1. entscheidet die Behörde des “Gast”-Landes nach ihren eigenen Kriterien über die Aufnahme oder Abweisung von Migranten, d.h. gemäss Kriterien, die niemandem gegenüber gerechtfertigt werden müssen.
  2. Migranten, die in eine solche Kultur einreisen- oder von dort weggehen, sind dazu bestimmt, ihr Schicksal nach dem Willen der übergeordneten Behörde zu akzeptieren, wie dieses Schicksal auch immer ausschaut.

Eine dritte kulturelle Prämisse könnte diejenige der geteilten Verantwortung sein, d.h.

  1. 5. die Schweizer Behörden und die Migranten tragen die Mitverantwortung für die missliche Lage und die Konsequenzen daraus zu gleichen Teilen – dies
    1. proportional zur Höhe der jeder einzelnen Partei zur Verfügung stehenden Mittel und ihrem Einfluss bzw.
    2. unabhängig von irgendwelchen Asymmetrien bezüglich deren Einflussmöglichkeiten oder zur Verfügung stehenden Mitteln.

Eine vierte kulturelle Prämisse könnte diejenige der aktiven, kollektiven, humanitären Verantwortung sein. Dies würde bedeuten, dass

  1. wie das SRK und die RK/RH, die Schweizer Behörden und die Migranten die Verantwortung für sich annehmen müssen, alle Individuen zu akzeptieren, zu respektieren und mit allen Individuen, aktiv mitzufühlen, unabhängig von deren Religion, Geschlecht oder anderen Unterscheidungsmerkmalen.

Während die Liste von möglichen kulturellen Prämissen fast endlos ist, auch weil diese Prämissen in verschiedenen Konstellationen untereinander auftreten können, stellen sich die folgenden grundsätzlichen Fragen:

  1. Welche kulturellen Prämissen sollten in einer bestimmten Situation gelten?
  2. Inwieweit sollten dieselben kulturellen Prämissen von allen beteiligten Parteien angewandt werden?
  3. Wer sagt dies, warum sagen sie es so und inwieweit kann von ihnen verlangt werden, zu rechtfertigen, warum sie es so sagen?

und, insbesondere bezüglich der Ausschaffung,

  1. Welche Rolle könnte das SRK unter welchen kulturellen Prämissen spielen?

Als Autoren dieses Artikels kennen wir wenigstens zum Teil die Bestrebungen des SRK und der Schweizer Behörden, den Migranten dabei zu helfen, über ihre bedenkliche Lage und die damit verbundenen Konsequenzen zu reflektieren; andererseits sind wir uns nicht sicher, was die Prämissen betrifft, die hinter

  1. den Motiven stehen, diese Hilfe zur Verfügung zu stellen und
  2. der Methode, die dabei zur Anwendung kommt.

Ausserdem sind wir uns nicht im Klaren,

  1. inwieweit diesen Menschen ein Umfeld des ethischen Raums zur Verfügung steht, in dem sie
    1. ihre ethische und interethische Kompetenz entwickeln können und and
    2. über ethische Standpunkte reflektieren können, die in ihren Ursprungsländern, in der Schweiz und in anderen Ländern und Gemeinschaften angewandt werden.

Unsere Prognose geht dahin, dass zahlreiche, vermeintlich unüberwindbare Probleme gelöst werden könnten, wenn alle drei Parteien, d.h.

  • die RK/RH und das SRK
  • die Schweizer Behörden
  • die Migranten

Zugang zu einem ethischen Raum bekommen würden. Dies würde es ermöglichen, die Herausforderungen der Existenz einer Vielzahl von ethischen Grundeinstellungen auf eine ganz andere Art als bisher anzugehen.

Es könnte das SRK und/oder die RK/RH sein, die den ethischen Raum für die Schweizer Behörden und für die Migranten schaffen würden, um dort über ihre jeweiligen Standpunkte zu reflektieren. Während dies vorgängig seitens des SRK und/oder der RK/RH ethische Neutralität voraussetzen würde, könnte dies für diese Organe auch die Gelegenheit schaffen, ihre Neutralität in einer Form unter Beweis zu stellen, die die Zweifel über die dahinterstehende Motive beseitigen würde. Die Natur und Qualität der Expertise, die die Vertreter des SRK und der RK/RH bieten können, hängt natürlich davon ab, wie weit das Verständnis dieser Institutionen bezüglich der Neutralität reicht und wie sie – daraus resultierend – ihre eigene Identität und Rolle in globalen Angelegenheiten definieren.

6. Fazit

Die Beispiele im letzten Kapitel illustrieren einige der inneren kognitiven und emotionalen Prozesse, die Menschen durchleben, wenn sie ihre interethische Kompetenz entwickeln, um spezifische ethische Dilemmata und Konflikte zu überwinden bzw. aufzulösen. Bei den Fallstudien, die wir untersucht haben, handelte es sich um

  1. einen Produktionsmanager und einen Verkaufsingenieur sowie
  2. das Schweizerische Rote Kreuz

Diese spezifischen Fallstudien dienen auch dazu, zu zeigen, wie alltäglich es für Individuen und Institutionen auf der ganzen Welt ist, mit unterschiedlichen kulturellen und ethischen Standpunkten konfrontiert zu werden – entweder mit anderen Personen oder in sich selbst. Dieses Phänomen ist nicht nur ein alltägliches: Es kann weitreichende, oft potentiell irreversible, materielle und soziale Konsequenzen haben. Wenn kulturelle und ethische Konflikte unentdeckt bleiben und in der Folge über einen längeren Zeitraum nicht aufgelöst werden, können Beziehungen im politischen, Geschäfts- oder Privatleben zerstört werden. Auf der Ebene des Individuums können diese Konflikte sehr viel mentale und emotionale Energie abverlangen und zu Symptomen schwerer Verausgabung (‚burn-out‘), emotionaler Isolation, chronischer Depression und sogar bis zum Selbstmord führen. 15

Wenn wir zu den Postulaten 2 und 3 zurückkommen (siehe Kapitel 1), wirft diese Erkenntnis die Frage auf:

  1. Warum erkennen so wenige Individuen und Institutionen dass
    1. die wahre Quelle von vielen ihrer mentalen und emotionalen Notlagen, Dilemmata und Konflikten von kultureller und/oder ethischer Natur sind und
    2. wenn richtig analysiert, diese Notlagen relativ leicht durch die Anwendung von interethischer Kompetenz aufzulösen sind.

Die einfache Antwort darauf ist, dass es ein mangelndes Bewusstsein über die Rolle und die Konsequenzen von kulturellen und ethischen Unterschieden gibt. Wir müssen jedoch anerkennen, dass der tiefere Grund in der Tatsache liegt, dass mono-ethische Konditionierung so überwiegend und tiefsitzend verankert ist, dass das Konzept von ethischer Kompetenz ausserhalb der mentalen Paradigmen der meisten Menschen liegt. Wir können dies daran beobachten, wie Menschen mit einem hohen Grad an interethischer Kompetenz wahrgenommen und behandelt werden (siehe Postulat 2).

Mit der Ausnahme einiger Menschen, die

  • nicht dazu konditioniert sind, interethische Kompetenz überhaupt wahrzunehmen, oder diese als angemessen zu betrachten (siehe Kapitel 3.5), oder
  • ethischen Relativismus mit ethischer Kompetenz verwechseln (siehe Kapitel 4.1),

kann es für viele Menschen sehr beunruhigend sein, mit jemandem zu interagieren, der nach aussen einen hohen Grad an interethischer Kompetenz auslebt. Ethische “Flexibilität” – wie es viele nennen würden – stört mitunter unser allgemeines Verständnis von Glaub- und Vertrauenswürdigkeit.

Der Grund dafür ist, dass diese Attribute grundsätzlich mono-kulturell und mono-ethisch definiert sind: Wie können wir einer Person trauen, die dazu in der Lage ist, sich von einem ethischen Standpunkt zu einem anderen zu bewegen – und die dies in einer offensichtlich authentischen und nicht nur kognitiven Art und Weise tun kann?

Hingegen, nur wenn wir beginnen,

  1. die Tatsache anzuerkennen, dass die Welt um uns herum tatsächlich multi-ethisch und dass unsere inneren Welten ebenso oft multi-ethisch sind, und
  2. die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis annehmen – einschließlich einer fundamentalen Re-definition von Begriffen wir Vertrauen, Vertrauenswürdigkeit, Glaubwürdigkeit und Identität

werden wir

  1. neue Wege entdecken, um die inneren Dilemmata und Konflikte aufzulösen 16, die in einem wesentlichen Ausmass unsere mentale und emotionale Energie beanspruchen – oft ohne, dass wir uns dessen bewusst sind – und
  2. anfangen, die Fakultät von interethischer Kompetenz wertzuschätzen und sie in uns selbst und in anderen zu entwickeln.

Interethische Kompetenz hilft uns, die Grundannahmen, die fest in den Hintergrund unserer Motive, Urteile und Handlungen eingewebt sind, zu erkennen und uns damit auseinanderzusetzen. Sie erlaubt uns, unseren eigenen ethischen Fussabdruck – sowie den von anderen – mit einem hohen Grad an Klarheit anzuschauen und zu untersuchen.

Solange wir dies in einem Kontext von ethischer Neutralität tun können, werden diese Untersuchungen zu Erleichterung statt Kritik, zu Wahrhaftigkeit statt Illusion führen und uns damit ermöglichen, rational und emotional nachhaltige Lösungen zu finden.

Anmerkungen und Literaturhinweise

  1. Robinson, Stuart D.G., ‘Learning to Interface: Serious Deficits and Encouraging Trends in Management Development’, Barometer, 5C Institute, Zug, Switzerland, 1994 und ‘Interkulturelles Management – die Kunst, Konflikte zwischen Kulturen zu bewältigen bzw. zu vermeiden’ Barometer, 5C Institute, Zug, Switzerland, 1994 (zurück)
  2. Fukuyama, Francis, ‘The End of History’, Avon/Bard, Free Press, New York 1989 (zurück)
  3. Nancy, Jean-Luc, ‘Dis-Enclosure’, Fordham University Press, New York, 2008; Saul, John Ralston, ‘Collapse of Globalism’ Overlook Press, New York, 2005; Watson, Peter, ‘A Terrible Beauty’, Phoenix Non Fiction/History, London, 2000 (zurück)
  4. Robinson, Stuart D.G., ‘The Value of Neutrality’, 5C Centre, Zug, Switzerland, 2007 (zurück)
  5. Bielefeldt, Heiner, ‘Philosophie der Menschenrechte’, Primus, Darmstadt, 1998; Chappel, Timothy, ‘Ethics and Experience, Life beyond Moral Theory’, Acumen, Durham, 2009; Guthrie, Shandon ‘Immanuel Kant and the Categorical Imperative’ in The Examined Life On-Line, Philosophy Journal Vol. II, 2001; Lukes, Steven, ‘Moral Relativism’ Profile, London, 2008; Sen, Amartya, ‘The Idea of Justice’, Penguin, London, 2009; Wiggins, David, ‘Ethics: Twelve Lectures on the Philosophy of Mind’, Penguin, London, 2006
    Es ist für westliche Ethiker kein Zirkelschluss an eine Ebene der Meta-Ethik zu appellieren wenn diese für sich selbst ein kulturelles Artefakt ist, d.h. das Produkt derselben Art und Weise, die Welt zu sehen und ihr einen Sinn zu geben? (zurück)
  6. Robinson, Stuart D.G., ‘The Ethical Implications of Feedback’, 5C Centre, Zug, Switzerland, 2010 (zurück)
  7. Morosini, Piero ‘The Importance of Cultural Fit in Cross-Border Mergers and Acquisition Deals’, Barometer, 5C Institute, Zug, Switzerland, 1993; Robinson, Stuart D.G. ‘Why Have 70% of All Joint Ventures Failed?’ Barometer, 5C Institute, Zug, Switzerland, 1993 (zurück)
  8. de Saussure, Ferdinand, ‘Cours de linguistique générale’, Bally and Sechehaye, Payot, Lausanne, 1916 (zurück)
  9. Hampden-Turner, Charles, ‘Corporate Culture’, Piatkus, London, 1994 (zurück)
  10. Faure & Rubin, ‘Culture and Negotiation’, Sage, London, 1993; also Robinson, ‘The Value of Neutrality’ op. cit (zurück)
  11. Ignatieff, Michael, in ‘Hard Choices: Moral Dilemmas in Humanitarian Intervention’ by Jonathan Moore, Oxford, 1998 (zurück)
  12. Berry, Nicolas, ‘War and the Red Cross’, New York, 1997 (zurück)
  13. Minear, Larry, ‘The Theory and Practice of Neutrality’ in the ‘International Review of the Red Cross’, No 833 (zurück)
  14. Kommissariat der Deutschen Bischöfe ‘Abschiebungsbeobachtung – Ein Modell zur Umsetzung von Art. 8 Abs 6 der EU-Rückführungsrichtlinie’, Berlin, 2010 (zurück)
  15. Hess and Robinson, “Burnout – Ursachen und Heilung“, Erfolg 6/2012, Zürich, 2012, Robinson, Stuart, “The Link between Personal Distress and Cultural and Ethical Assessments, 5C Centre, Zug, Switzerland, 2012 (zurück)
  16. Das Konzept der ethischen Inzipienz (des ethischen entstehens) ist eng verbunden mit demjenigen des wahrnehmens, wie in Sektion 4.3 definiert wurde, und ist das Resultat einer sehr spezifischen Form der ethischen Reflektion.
    Ein entscheidender Moment im Prozess des Sohnes, die Auswirkungen solcher ethischer Prämissen zu erkennen, ist der Prozess der Inzipienz, das heißt der Prozess den Moment zu erfassen, wenn ein neuer mentaler Zustand sich unter Umständen entwickeln kann, der ihm oder ihr erlauben würde, ein Dilemma auf eine fundamental neue Art zu behandeln. Für eine detailliertere Abhandlung dieses Konzeptes wird der Leser verwiesen auf Lynn, Richard, “I Ching – The Classic of Changes” Columbia, New York, 1994, der aus der originalen Wang Bi Auslegung wie folgt übersetzt:
    To plumb the principles the pre-phenomenal world” is what is meant by profundity, and “to be ready just at that moment when the imperceptible beginnings of actions occurs” is what is meant by the term incipience. (p. 63).
    Das Konzept der Inzipienz, wenn es auf den Prozess des Wahrnehmens Bezug nimmt, der durch ethischen Raum ermöglicht wird, kann sich mit einem bestimmten Verständnis des Konzepts des tao und/oder dharma überschneiden – siehe Subramanaian, Ramnath, ‘The Dharma Dilemma: The Challenge of Competing Duties’, Huffington Post, 2011, besonders, wenn dieses Verständnis bedingt, seinen mentalen Grenzen zu entfliehen, die durch das Festhalten an einer begrenzten Anzahl an Prämissen geschaffen wurden. (zurück)